Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
»Schnell!«
Niccolo war versucht ihr alles zu erzählen, ehe er einsah, dass das viel zu viel Zeit gekostet hätte. »Ich erkläre es dir später«, brachte er stockend hervor. Für endlose Augenblicke fühlte er sich ihr wieder so nah wie zuvor, und der Drang, ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen und ihre Lippen zu küssen, war übermächtig. Dann aber kehrten die Schatten seiner Zweifel zurück, das seltsame Unbehagen, das ihm ihre Nähe mit einem Mal einflößte -und da war noch etwas anderes.
Ein Ziehen und Zerren in seinen Gedanken, das er schon einmal gespürt hatte. Die Anwesenheit von etwas, das mit spindeldürren Fingern nach ihm tastete.
Ein Ächzen entfuhr ihm, als ihm bewusst wurde, dass der Aether einmal mehr versuchte ihn unter seinen Einfluss zu zwingen. Aber warum ihn, wenn doch -
Mondkinds Mandelaugen erglühten in knochenfarbenem Weiß. Für die Dauer eines Herzschlags verschlang es ihre Pupillen, gab sie dann wieder frei und blieb doch als haarfeines Schimmern am Rande ihrer Augen zurück, so als verberge es sich unter ihrem Gesicht.
»Ihr müsst jetzt absteigen!« Xixatis Ton wurde schärfer. »Beeilt euch!«
»Mondkind«, flüsterte Niccolo, während er gegen den Einfluss ihres Feindes ankämpfte, »komm mit mir.«
Mit sanftem Nachdruck löste er ihre Umarmung und wich dabei ihrem Blick aus. Er hatte Angst vor dem, was er darin sehen würde. Dass es nicht mehr Mondkind war, die zu ihm aufsah, sondern etwas anderes. Ohne eigenen Willen ließ sie zu, dass er sie vom Schädel des Jungdrachen herabließ. Am Boden gaben ihre Beine nach. In einer Flut aus weißer Seide sackte sie zusammen.
Hastig sprang er hinter ihr her und zog sie von Xixati fort, der sich augenblicklich in Bewegung setzte. Bis zur dunklen Wand des Riesenherzens war es nicht mehr weit.
Sie befanden sich bereits inmitten der schrecklichen Hügel aus Juruleichen und Drachenleibern. Niccolo schaute nicht nach unten, weil er gar nicht genau sehen wollte, über was sie sich hinwegbewegten; weich war der Untergrund, ein verschlungenes, knotiges Auf und Ab.
Xixati erhob sich vom Boden. Zwanzig Meter über dem Schlachtfeld flog er in das Gewirr der schwarzen Adern, manche dick wie Mammutbäume, andere nicht breiter als ein Oberschenkel. Sein glühender Schlangenleib schwebte jenseits der vorderen Stränge wie ein Mond in einer Baumkrone, ein undeutliches, fast formloses Glühen, das sich dem Herzen Pangus näherte.
»Was hat er vor?«, brachte Mondkind mühsam hervor.
Dass sie das fragte, machte Niccolo ein wenig Hoffnung. Aber die Angst um sie, und zugleich auch vor ihr, blieb bestehen, wuchs sogar noch weiter, als er entdeckte, dass Seidenbänder unter dem Saum ihres Kleides hervorkrochen und einen geisterhaften Tanz begannen wie Schlangen beim Flötenklang eines Fakirs.
Warum jagte sie ihm Furcht ein, obwohl er sie doch liebte ... sie lieben musste ? Er streichelte ihre Wange und sah, dass das bleiche Glühen in ihren Augenwinkeln noch immer da war, so als lauerte es nur darauf, sich abermals über ihre Pupillen zu schieben wie die Nickhäute der Drachen.
Oben im Netz der Venen und Arterien stieß Xixati ein donnerndes Brüllen aus. Zuletzt hatte Niccolo den Kampf sehr ei des jungen Drachen vor Mondkinds Grotte vernommen, als sie sich gemeinsam der Übermacht der
Juru gestellt hatten. Nun aber begann dort oben eine andere Art von Kampf, als Xixati in Raserei verfiel. Mit Krallen und Zähnen schlug er sich durch die verästelten Stränge, bis er sich zur Wand des Riesenherzens vorgearbeitet hatte. Dort ließ er sich auf einer besonders breiten Ader nieder, riss den Schädel nach hinten, holte aus - und stieß die Schnauze tief in das dunkle Muskelgewebe.
Niccolo schauderte, als er die nassen, malmenden Laute vernahm, mit denen Xixati seine Kiefer in das Herz des Riesen grub.
Zugleich bemerkte er, dass ihm das Luftholen immer schwerer fiel. Sie befanden sich im Inneren eines titanischen Körpers, und wenn die Risse und Spalten in Pangus Außenhaut ebenso schnell verheilten wie die Hohlräume in seinem Inneren, dann würde bald kaum noch Luft zum Atmen bleiben.
Die Seidenbänder wiegten sich immer aufgeregter hin und her, ihre Enden tanzten eine Armlänge über dem Boden, federleicht wie schneeweiße Flammen. Der wirbelnde Ring, den sie um Mondkind und Niccolo woben, wurde größer, als die Bänder weiter unter der Seide hervorfächerten, erst in die Breite, dann in die Höhe.
»Lass das!«, fuhr er Mondkind an und
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