Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
›Marienerscheinung‹ in Grauenfels angeht …« Pfarrer Herberger stand auf der Kanzel und ließ strenge Blicke über seine ungewöhnlich zahlreich versammelte Gemeinde schweifen. Der Massenandrang auf diese Messe am Samstagabend war unzweifelhaft seiner Ankündigung zu verdanken, sich hier zu den Vorfällen im Nachbarort äußern zu wollen. »So habe ich die drei Kinder aufs Gründlichste befragt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass hier ein Missverständnis, wenn nicht gar grober Unfug vorliegt. Selbstverständlich ist diesen sehr weltlich gesinnten Kindern nicht die Jungfrau erschienen, bestenfalls liegt ein Tagtraum rund um irgendeinen Rockstar vor. Auf keinen Fall sollte die Angelegenheit von kirchlicher Seite unterstützt werden. Wahre Gläubige werden sich von diesen Irrwegen fern halten … Lesen wir lieber, was uns die Bibel zum Thema ›Falsche Propheten‹ offenbart.«
»Gewogen und für zu leicht befunden.« Gina lachte, als IgorBarhaupt, der dem Gottesdienst als Spion beigewohnt hatte, später besorgt von der Stellungnahme des Priesters berichtete.
Berit kicherte ebenfalls.
»Wie gut, dass Light -Produkte in sind!«, fügte sie grinsend hinzu.
Am Sonntag bevölkerten die ersten Neugierigen das Grauenfelser Wäldchen schon um sieben Uhr morgens. Als Igor Barhaupt um zehn seine erste Inspektionsrunde machte, verteilte Ortspolizist Wegeborn bereits Strafmandate. Die Zufahrt zum Steinbruch war weitgehend zugeparkt.
»Mensch, Wegeborn, sind Sie noch bei Trost!«, raunzte der Bürgermeister ihn an. »Da haben wir endlich mal Leute hier, und Sie vergraulen sie gleich? Haben Sie sich mal die Kennzeichen angeguckt? Die Leute kommen zum Teil aus dem Westen! Nein, nein, da sind wir heute mal großzügig. Und beim nächsten Mal weisen wir Sonderparkplätze aus.«
Gegen elf hatten sich um die zweihundert Menschen im Grauenfelser Forst versammelt, um zwölf machte der Dorfkrug nie gekannte Umsätze, um vierzehn Uhr begaben sich Claudia und Sophie dorthin, wo ihnen die Jungfrau angeblich erschienen war. Bernie natürlich im Schlepptau. Der Kleine winkte den Pilgern fröhlich zu, die den drei Kindern ehrfürchtig Platz machten. Claudia und Sophie schauten dagegen ernst und taten, als würden sie die Schaulustigen um sich herum gar nicht wahrnehmen. Gina und Berit hatten viel Zeit auf die Auswahl der Outfits verwandt. Motto: Nicht zu brav und nicht zu grell. Schließlich hatte sich Claudia für eine hellblaue Jeans und ein dunkelblaues Sweatshirt entschieden, Sophie trug einen bunten Rock und einen grünen Pulli. Bernie sollte eigentlich ein neutrales, gelbes T-Shirt tragen, hatte sich aber im letzten Moment geweigert und auf sein Pokémon-Hemd bestanden. Es zeigte die Comic-Mutation eines ziemlich grimmig dreinblickenden Flugsauriers und wollte so garnicht zu dem strahlenden Lächeln passen, mit dem Bernie jeden Anwesenden beschenkte.
»Was sind das nun alles? Neugierige? Oder glauben die echt an diese …« Das Wort Madonna wollte Barhaupt immer noch nicht so recht über die Lippen kommen.
Pastor Jaeger, der mit ungläubigem Gesicht neben ihm stand und den Auftrieb beobachtete, zuckte die Schultern.
»Heute wohl hauptsächlich Neugierige, die meisten aus Tatenbeck«, meinte er dann abschätzig. »Pfarrer Herberger hat ganze Arbeit geleistet. Aber wenn die Mädchen eine gute Show bieten … ach, wahrscheinlich reicht es schon, wenn die Story in ein oder zwei Zeitungen steht, dann kommen die echten Marienanhänger. Soll das mit der Quelle eigentlich heute schon laufen oder beim nächsten Mal?«
»Nächstes Mal. Heute sind erst mal ein paar Prophezeiungen dran, meinte Frau Mohn. Mich macht das ja alles ganz kribbelig. Wenn wir uns damit man bloß nicht zu weit aus dem Fenster lehnen …«
Pastor Jaeger nestelte an seiner Haarspange herum. Seine Jesuslocken waren dem silbernen Schmuckstück schon wieder entfleucht. Schließlich behalf er sich mit einem Gummiband. »Frau Mohn und Frau Landruh wissen schon, was sie tun. Viel zu gut. Ich dagegen … moralisch ist das eigentlich alles nicht tragbar.«
»Beten Sie um Beistand«, grinste Barhaupt. »Und um gutes Wetter. Sieht verdammt aus, als gäbe es ein Gewitter.«
»Kann aber auch noch vorbeiziehen«, meinte Jaeger mit prüfendem Blick zum Himmel. »Wenn wir Glück haben, regnet es über Tatenbeck ab.«
*
Auch Gina sondierte die Wolkenformationen. »Sollen wir’s nicht lieber jetzt schon starten?«, fragte sie Berit. Die beidenhatten auf dem einzigen
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