Das Zeichen des Vampirs - The Society of S
mein Vater inne, stand auf und ging zur Tür. Irgendjemand, wahrscheinlich Root, reichte ihm ein Tablett, auf dem zwei Gläser Picardo standen. Er schloss die Tür wieder und kam mit dem Tablett zurück. »Das zweite Glas ist für dich«, sagte er.
Noch eine Premiere , dachte ich und nahm das Glas. Mein Vater stellte das Tablett ab, hob das andere Glas und sagte feierlich: »Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus.«
»Freuen wir uns, solange wir noch jung sind«, übersetzte ich. »Das soll einmal auf meinem Grabstein stehen.«
»Und auf meinem.« Das war das erste Mal, dass wir zusammen scherzten. Wir stießen mit unseren Gläsern an und tranken.
Die Flüssigkeit schmeckte scheußlich. Wahrscheinlich verzog ich das Gesicht, denn mein Vater unterdrückte ein Lächeln. »Auch ein Geschmack, an den man sich erst gewöhnen muss.«
»Oder auch nicht«, sagte ich. »Was ist da drin?«
Er hob sein Glas und schwenkte es, sodass sich die rote
Flüssigkeit darin zu drehen begann. »Das ist ein Aperitif. Die Bezeichnung stammt von dem lateinischen Wort aperire .«
»Öffnen«, sagte ich.
»Genau. Man trinkt ihn, um die Geschmacksknospen vor der Mahlzeit zu öffnen. Ursprünglich wurden Aperitifs aus Kräutern, Gewürzen, Wurzeln und Früchten hergestellt.«
»Woher kommt die rote Farbe?«
Mein Vater stellte sein Glas ab. »Das Rezept stammt von der Familie Picardo und wird streng geheim gehalten.«
Während wir an unseren Drinks nippten, fuhr mein Vater mit seiner Geschichte fort. Wer der »Zustandsveränderung«, wie mein Vater es nennt, unterzogen wird, ist sich seines neuen Wesens sofort bewusst. Wenn ein Vampir und eine Sterbliche jedoch ein Kind zeugen, lässt sich das wahre Wesen des Kindes zunächst nicht feststellen.
»Ich habe grauenhafte Berichte von Eltern gelesen, die ihr Mischlingskind an einen Pfahl banden und es dem Sonnenlicht aussetzten, um herauszufinden, ob es verbrennen würde«, sagte er. »Dabei ist Lichtempfindlichkeit gar kein sicheres Zeichen für Vampirismus. Auch unter den Sterblichen ist Sonnenempfindlichkeit weit verbreitet.«
Ich war mir nicht sicher, was ich von dem Ausdruck Mischling halten sollte.
»Ich habe den historischen Ausdruck benutzt«, sagte mein Vater. »Heute ziehen wir den Begriff Hybrid vor.«
Ich nahm einen kleinen Schluck von dem Picardo und zwang mich, ihn hinunterzuschlucken, wobei ich die Luft anhielt, um nichts zu schmecken.
»Kann man Vampirismus nicht durch Bluttests feststellen?«, fragte ich.
»Sie liefern keine eindeutigen Ergebnisse.« Als er die Arme
vor der Brust verschränkte, ertappte ich mich wieder dabei, wie ich seinen kräftigen Hals betrachtete.
Mein Vater erzählte mir, dass es in jedem Land und in jeder Berufsgruppe Vampire gebe. Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass viele Vampire in der wissenschaftlichen Forschung tätig sind, speziell in Bereichen, die sich mit Blut beschäftigen. Andere arbeiten als Lehrer, Anwälte, Landwirte und Politiker. Er sagte, es gäbe derzeit zwei U S-Kongressabgeordnete, die angeblich Vampire seien; Internetgerüchten zufolge würde einer von ihnen darüber nachdenken, »aus dem Sarg zu steigen« - ein scherzhafter Ausdruck dafür, sich öffentlich zu seinem Vampirismus zu bekennen.
»Ich bezweifle aber, dass er dies in absehbarer Zeit tun wird«, sagte mein Vater. »In Amerika ist man noch nicht so weit, Vampire als normale Mitbürger zu akzeptieren. Hier kennt man nur die Legenden, die durch Romane und Filme verbreitet werden.« Er nahm kurz meine Notizen in die Hand und legte sie gleich wieder auf den Tisch zurück. »Und im Internet.«
Ich holte tief Luft. »Was ist mit den Spiegeln?«, fragte ich. »Und den Fotos?«
»Auf diese Frage habe ich gewartet.« Er stand auf, ging zu dem Schaukasten an der Wand und winkte mich zu sich.
Ich stellte mich neben ihn und fragte mich, was er mir zeigen wollte. In dem gewölbten Glas sah ich mein verschwommenes Spiegelbild, nicht aber das meines Vaters. Ich drehte den Kopf zur Seite, um mich zu vergewissern, dass er immer noch neben mir stand.
»Das ist ein Schutzmechanismus«, erklärte er. »Wir nennen ihn Emutation. Dabei kann der Grad der Emutation von uns gesteuert werden. Vampire können sich vor Sterblichen
vollständig unsichtbar machen oder ein verschwommenes oder unvollständiges Bild von sich erzeugen, indem sie die Elektronen ihres Körpers steuern und verhindern, dass sie Licht absorbieren. Dieser Vorgang findet zunächst willkürlich statt und wird
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