Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Dann
Vom Netzwerk:
spielen. Scheiße-Nichtstuer. (Laß das. Dibbukdreck.)
    Ein Summer ertönte und erinnerte Chaim daran, daß er anderen im Wege war. Er versuchte, ihn zu überhören. Gleich würde die Kapsel genügend Gedankengeräusch auf Chaim richten, um ihn zum Aussteigen zu zwingen. Denk nach. Über diese Kinder auf der Plattform, sagte er sich. Sie waren wie Schejnes, wie Reiche, gekleidet, aber sie hatten die roten Gesichter der Prostes, der Armen. Ein Kälteschauer fuhr ihm durch die Lenden. Denk-denk. An etwas Vertrautes. Etwas Schönes. (Dibbukgeschwätz. Verschließ die Ohren.)
    Chaim umklammerte den Karton auf seinem Schoß und spürte, wie ein Schauder durch seine Beine strahlte. Eine Flamme färbte alles, was er dachte und sah, und dämpfte die immer anwesende Frustration, die wie Kohlen in seinem Schoß glühte. Es gab keinen Grund zur Eile, sagte er sich. Er mußte sich an etwas erinnern. Das ist es, dachte er. Diese Kinder sehen alle wie ich aus. (Träumer, Lügner. Pseudomann.) Wie meine Kinder. (Dibbukbrut.) Wieder diese Kälte. Sein Schoß war feucht. Er schüttelte die dunklen Dinge ab, die in seinem Geist herumkrochen, und bemerkte, daß er zwischen seinen breiten Händen weiches Fleisch knetete. Seine Hände steckten in dem Karton.
    „Gotenju“, rief er, während er die Hände aus dem Karton zog und den Deckel schloß. „Jetzt haben sie auch mein Fleisch.“ Er beobachtete die Leute, die an der Kapsel vorbeieilten. Obwohl einige Frauen in alten Kleidern und Arbeitsschürzen herumliefen, waren die Männer – die knielange Kaftane trugen und ungepflegte Vollbarte, aber ordentlich gekämmte Schläfenlocken – in der Überzahl. Mehrere Kapseln stauten sich hinter Chaim. Es war noch früh, die Arbeiter waren noch nicht auf dem Heimweg, und ihre Frauen bereiteten in ihren Wohnungen hektisch den Erew Schabbes, den Sabbatabend, vor. Er wurde „kurzer Freitag“ genannt, weil nach Sonnenuntergang keine Arbeit mehr getan werden durfte. Jede am „kurzen Freitag“ in den Gebäudegängen angetroffene Frau wurde als Jidene, als Schlampe, angesehen und von den anderen Frauen ihres „Städtl“-Milieus gemieden, es sei denn, sie hatte eine triftige Entschuldigung. Der Schabbes war eine Zeit für die Familie, eine Zeit für Gebet und Studium.
    Chaim stellte fest, daß er ohne weiteres die meisten Gedankengeräusche aussperren konnte. Er bildete sich ein, daß Raizel, die Amme, genau wie er aussah. Obwohl er dabei ständig um sein Leben bangte, trieb er es mit ihr auf der Brüstung. Er war unersättlich und saugte die Lebenssäfte aus ihrem zerbrechlichen dünnen Körper.
    „Worauf warten Sie noch?“ fragte Feigle Kaporeh, eine alte Frau, die ein zerknittertes knöchellanges Kleid, ein Tuch um ihren dicken Hals und eine Perücke über ihrem kurzgeschnittenen Haar trug – sie galt als senil, hielt sich selbst aber noch immer für schön genug, um sündige Blicke zu verteilen. „Wieviel Lärm muß die Kapsel denn machen, bis Sie aussteigen?“
    Immer noch an Raizel denkend, schwang Chaim ein Bein aus der Kapsel. Feigle Kaporeh kann nicht wie ich aussehen, sagte er sich, während er den Karton hinter sich herausholte. (Onanist.)
    „Oh“, sagte sie, „Sie sind es. Scheren Sie sich weg von mir. Tatenju.“
    „Jidene“, murmelte Chaim, eilte über die Plattform und drängte sich durch die wenigen Leute, die ihm im Weg waren. Er konnte den süßen Duft der Chala, des Sabbatbrotes, riechen, der sich mit der muffigen Luft des Transkapseltunnels vermischte. Chaim fühlte, wie er sich zusammenballte, um dann zu explodieren und die in seinem verdorbenen Körper eingesperrten Säfte herauszuspritzen. Ich muß mit den Puppen allein sein, dachte er. Nur ein paar Minuten. (Bekämpfe sie.)
    Ein von goldenen Löwen und Tafeln mit den Zehn Geboten gekrönter Torbogen führte zu den Shtetlfive-Wegen, eitlem Labyrinth von Gängen, die parallel und rechtwinklig zu einem Fließband verliefen, das außer Betrieb war. Das Fließband mit der niedrigen Decke hatte die Größe einer schmalen Straße oder Gasse und war zum Treffpunkt der Nachbarschaft geworden. Es war schlecht beleuchtet und gelüftet, aber in einer Gegend, in der der Raum ein Vorrecht war, stellte dieser leere Tunnel einen Luxus dar. Man hoffte, daß die Behörden das Fließband nicht so bald in eine Passage verwandeln würden. In der Nähe lagen die Hörsäle und Versammlungsräume, die als Synagoge dienten, als Beißmedresch – als Studien- und Gebetszentrum,

Weitere Kostenlose Bücher