Das zitternde Herz
seltsam, ich erinnere mich an die Räume, in denen wir, oft am selben Platz, um die Tische saßen, wer viel sprach, wer wenig oder überhaupt nicht, und an die Seminararbeiten, die jeder von uns schrieb und die wir alle lasen. Ich kann sogar die Menschen den Arbeiten zuordnen, selbst wenn mir ihre Vor- und Nachnamen nicht mehr einfallen. Das Gedächtnis ist wirklich seltsam.«
»Irgendwelche Frauen, die dich wie die Pest haßten, weil du ihre Meinung über Jane Eyre nicht teiltest, oder die dich aus irgendeinem Grund verabscheuten? Oder die so taten, als hätten sie dich gern und sich dann als gemein erwiesen?«
»Was du anscheinend nicht begreifst, Leslie, ist, daß ich, falls sie mich haßten, es nicht wußte oder mich nicht daran erinnere.«
»Du erinnerst dich an niemanden weiblichen Geschlechts an der Universität, der dich nicht mochte?«
»Nicht wirklich. Irgendwie spielte Mögen oder Nichtmögen keine so große Rolle, oder wenn, dann erinnere ich mich nicht daran.
Doktoranden regen sich über Professoren viel mehr auf als über ihre Kommilitonen. Wenn du einen Kommilitonen nicht leiden kannst, dann gehst du mit einem Achselzucken darüber hinweg. Jedenfalls erinnere ich mich so daran, und so ist auch mein Eindruck von den Doktoranden heute. Natürlich, schwule Studenten hassen Homopho-be und umgekehrt, nehme ich an, aber ich gehöre keiner dieser beiden Kategorien an und tat es auch nie.«
»Du bist nicht wirklich hilfreich, Kate, wie du hoffentlich merkst.
Du hast mir doch schon Geschichten erzählt von Frauen, die dich falsch beurteilt, zu Unrecht beschuldigt haben oder was auch immer.
Wenn ich mich daran erinnere, dann du doch sicher auch. Was ist mit der Frau, die wollte, daß du ihre Anthologie als Doktorarbeit durchbringst, und die dann schlecht über dich redete, als du es nicht tatest oder konntest oder wolltest? Dann war da diese Frau, die keine Anstellung bekam und der die Männer sagten, es sei deinetwegen.«
»Ja, das war ein üblicher Trick, wie sich zeigte, genauso wie man Männern sagte, man könne sie nicht anstellen, weil man eine Frau nehmen müsse. Manchmal stimmte das, aber sehr selten. Ich erinnere mich an diese Vorkommnisse, aber keiner der beiden Fälle scheint mir – «
»Kate. Sieh mich an. Versuch das in deinen sturen Schädel zu kriegen: irgend jemand, wahrscheinlich eine Frau, haßt dich, und zwar aus persönlichen, nicht aus politischen Gründen, obwohl sie außerdem politische Ansichten unterstützt, die du verabscheust. Ich dachte, ich könnte dir helfen, aber ich habe mich offenbar geirrt. Du benutzt mich nur, um mir zu widersprechen, das ist alles. Ich gehe jetzt. Ich würde weiß Gott gerne noch bleiben und etwas trinken und über andere Dinge sprechen, aber du mußt endlich anfangen, über dieses Problem nachzudenken. Ruf mich an, wenn du die eine oder andere Idee hast. «
»Erpressung. Schlicht und einfach. Das hätte ich nicht von dir gedacht, Leslie.«
»Nenn es, wie du willst. Wenn du auch nur den leisesten Hinweis auf eine Spur hast, komme ich und helfe dir. Denk daran: Als sie Reed geschnappt haben, warst du einem Zusammenbruch näher, als ich es je zuvor bei dir erlebt habe; sie haben versucht, eine Detektivin zu ermorden, die für dich arbeitete – und fast wäre es ihnen gelungen. Also setz dein Gedächtnis in Gang. Ich weiß, daß es nicht leicht ist, mit der Tatsache fertigzuwerden, daß jemand einen so sehr haßt, daß er so etwas tut, aber darum geht es. Klar?«
»Ich finde nach wie vor, es ist Erpressung«, sagte Kate, aber Leslie hatte bereits die Tür hinter sich geschlossen.
Kate suchte noch immer nach Ausflüchten, um etwas anderes zu tun, als das Telephon klingelte. Es war Harriet. Sie erklärte, sie sei auf dem Weg zu Toni, der jetzt kurze Besuche erlaubt waren – und sie komme auf dem Rückweg bei Kate vorbei. Kate verspürte den plötzlichen Impuls, Harriet wegen Toni (und Toni wegen Harriet) zu warnen, aber sie hielt sich zurück. »Wir sehen uns dann«, sagte sie.
Während sie sich auf dem Sofa ausstreckte, gestand Kate sich ein, daß sie tatsächlich weniger besorgt wegen Harriet war, als sie es hätte sein können. Nicht, weil sie überzeugt war – das realisierte sie mit Schrecken –, daß Harriet Toni nicht hätte töten können. Harriet, so glaubte Kate, war fähig und geneigt, das zu tun, was immer sie für nötig hielt, wenn der Grund nur wichtig und unumstößlich genug war. Wozu Harriet nicht in der Lage wäre, das wußte
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