Das zweite Gesicht
Räuber und Gendarm wie ein kleines Kind!
Beinahe hätte sie geseu f zt, so verär g ert war s i e ü ber s i ch selbst. So e n ttäu s cht.
Sie wollte ihre Hand gerade zur ü ckziehen, als i h re Fingerspitzen eine Vertiefung berührten. Sie befand sich nur knapp unter einem der Regalbretter, und um sie zu ertasten, m usste sie in die Hocke gehen und sich tief in den Schrank beugen. Sehen konnte sie die Stelle nicht, sie lag in absoluter Dunkelheit.
Drei Schlüssel hatte sie ber e its be n utzt. Blieb nur der vierte.
Das Metall schabte verräteri s ch laut über das Holz; sie musste es mehrfach in S chle i fen hin- und herbewegen, ehe sie endlich wieder die Vertiefung fand.
Der Schlüssel passte nicht. Auch keiner der anderen drei.
Vielleicht war es doch kein Schlüsselloch. Nur eine Kerbe im Holz.
Enttäusc h t r i cht e te sie sich auf, schloss den Schrank ab und zuckte zusam m en, als das Schloss aber m als klickte. Einen Moment blieb sie stehen, ehe sie zur Ba dt ür huschte und das Ohr an das Holz legte. S i e hörte nichts, kein Schnarchen, kein At m en.
Sie zog ihre Schuhe aus, nahm sie in die linke Hand, schob den Schlüssel in ihren Mantel und öffnete leise die Tür. Durch den Spalt konnte sie Maskens Bett nicht sehen, es stand zu weit rechts im Z i m m er. Vorsichtig schob sie den Kopf durch die Öffnung ins Schlafzim m e r , sah zum Bett hinüber.
Je m and lag darin. Die Gestalt lag auf der Seite und wandte i h r den Rücken zu. Die Decke war b i s zum Kopf hochgezogen, Chiara erkannte dunkles Haar.
Es war W ahnsinn. Aber sie hatte keine andere W ahl.
Sie schlüpfte durch die Tür und zog sie hinter sich zu, aber nicht bis zum Ans c hlag, aus Furcht, das Einrasten des Schlosses könnte ihn wecken. Dann pirschte sie durch das Schlafzimmer zur Flurtür. Auf einem Sessel lag Maskens Abendgarderobe.
Bei jedem Schritt glaubte sie das Gewicht des Schlüsselbundes an ihrem Obe r schenkel zu spüren. Schabte das Metall nicht aneinander? Klirrte er nic h t lei se ?
Im m er wieder blickte sie zum B e tt hinüber. Masken rührte sich nicht. Hob und senkte sich die Decke? Im Dunklen war das nicht zu erkennen. Er hätte ebenso gut tot sein können.
Sie konnte es kaum fassen, als sie endlich die Zim m ertür erreichte. Er hatte sie n i cht be m erkt. Noch nicht.
Die Klinke runter, dann hinaus auf den Flur. Sollte sie die Tür wieder schließen? N e in, besser nur anlehnen. Kein Geräusch zu viel.
Barfuß rannte sie den Gang hinunter, zur Treppe, die Stufen hinab und in die Eingangshalle. Zittrig zog sie die Schlüssel hervor und sperrte die Haustür auf – Masken hatte sie z w ei m al abgeschlossen.
Draußen auf den Stufen, zwischen Julas Sta n dbild e r n , obszön in ihrem archaischen Prunk, schlüpfte Chiara in ihre Schuhe. Dann eilte sie ü b er die Auffahrt zum Gittertor. Hier gab es keine hohen B äu m e, nichts, das sie vor Blicken aus dem Haus schützte. Aber sie brachte es nicht fertig, über die Schulter zurückzuschauen, aus Angst, Masken an einem der Fenster stehen zu sehen.
In d e r Fer n e zi s chten i mm er noch Schweißgeräte. Stahl knirsc h te, a l s Bahnweichen ver s t e llt wur d en. Irgendwo ru m pelte es hohl, als Güter in W aggons verladen wurden.
Nur Geräusche, keine Menschen in der Dunkelheit.
Ein weißer Halb m ond über dem stählernen Horizont hunderter Waggondächer.
Sie schloss das Tor auf, huschte hindurch und versperrte es wieder. Schaute n o ch im m er nicht z u rück, wagte es nicht, wie ein Kind beim Spiel: Seh ich dich nicht, siehst du m i ch nicht.
Frierend und zu Fuß, b e bend vor Aufregung und Sch a m , floh sie hinaus in die Nacht.
Unterwegs be m erkte sie et w as, vielleicht ein Obdachloser, vielleicht nur ein streunender Hund. Sie hörte Atmen, Schnaufen und Schritte. Mehr m als. Vielleicht w aren da m ehrere.
Dann war es wieder ruhig.
Neun
Am nächsten Abend entschied Chiara sich für ihre zweite Rolle. Die Dreharbeiten begannen schon wenige Tage später, in den Ateliers von Te m pelhof.
Während einer Drehpause rief m an sie ans Telefon. Ihr Kleid war zerrissen und m it künstlichem Ruß geschwärzt, die passende Staffage für d i e Begleiterin von Abenteurern. Sie würde heute noch eine Felswand hinunterklettern müssen und vor dem Ertrinken gerettet werden; diese Rolle m achte weit m ehr Spaß als die der anä m ischen Lady Madeline. Der Film würde v i elleicht kein Kunstwerk werden, doch das er w artete
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