Das zweite Zeichen
Dose ließen sich noch ein bis zwei Löffel Pulver zusammenkratzen. Jetzt Zucker... Plötzlich
kam laute Musik aus dem Wohnzimmer, das Weiße Album. Meine Güte, er hatte ganz vergessen,
dass er dieses alte Band noch hatte. Er zog die Besteckschublade auf, um nach einem Teelöffel zu
suchen, und fand mehrere Tütchen Zucker, die er irgendwann mal in der Kantine gestohlen hatte.
Was für ein glücklicher Zufall. Der Kessel fing an zu kochen.
»Diese Wohnung ist ja riesig!«
Sie hatte ihn erschreckt, so wenig war er an andere Stimmen bei sich zu Hause gewöhnt. Er drehte
sich um und sah, dass sie am Türrahmen lehnte, den Kopf auf die Seite gelegt.
»Finden Sie?«, sagte er, während er einen Becher ausspülte.
»Aber ja. Sehen Sie doch nur, wie hoch die Decken hier sind! In Ronnies Bude kam ich mit den
Fingern fast an die Decke.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte einen Arm nach oben
und wedelte mit der Hand. Rebus fürchtete, dass sie irgendwas genommen hatte, irgendwelche Pillen
oder Pulver, während er auf der Jagd nach dem Teebeutel war. Sie schien seine Gedanken lesen zu
können und lächelte.
»Ich bin bloß erleichtert«, sagte sie. »Und mir ist noch ein bisschen schwindlig vom Laufen. Und
von der Angst vermutlich. Aber jetzt fühle ich mich sicher.«
»Wie sahen diese Männer aus?«
»Weiß ich nicht. Ich glaube, sie sahen ein bisschen aus wie Sie.« Sie lächelte wieder. »Einer
hatte einen Schnurrbart. Er war ziemlich dick und kriegte oben dünne Haare, aber er war noch
nicht alt. An den anderen kann ich mich nicht erinnern. Er hatte wahrscheinlich nichts
Bemerkenswertes an sich.«
Rebus goss Wasser in den Becher und tat den Teebeutel dazu.
»Milch?«
»Nein, nur Zucker, wenn Sie haben.«
Er hielt ihr eins von den Tütchen hin.
»Wunderbar.«
Im Wohnzimmer stellte er als Erstes die Stereoanlage leiser.
»Tut mir Leid«, sagte Tracy, die jetzt wieder mit untergeschlagenen Beinen in dem Sessel saß und
an ihrem Tee nippte.
»Ich wollte mich immer mal erkundigen, ob meine Nachbarn die Anlage hören«, sagte Rebus, als
wolle er seine Handlung entschuldigen.
»Die Wände sind ziemlich dick, aber die Decke nicht.«
Sie nickte, blies in den Becher; der aufsteigende Dampf legte sich wie ein Schleier auf ihr
Gesicht.
»Also«, sagte Rebus, zog seinen zusammenklappbaren Regisseurstuhl unter einem Tisch hervor und
setzte sich. »Was können wir wegen dieser Männer unternehmen, die Sie verfolgt haben?«
»Weiß ich doch nicht. Sie sind der Polizist.«
»Das hört sich für mich alles wie aus einem Film an. Ich meine, warum sollte irgendjemand
Sie verfolgen wollen?«
»Um mir Angst einzujagen?«, schlug sie vor.
»Und warum sollte man Ihnen Angst einjagen wollen?«
Sie dachte kurz darüber nach, dann zuckte sie die Achseln.
»Ich hab übrigens Charlie heute kennen gelernt«, sagte er.
»Ach ja?«
»Mögen Sie ihn?«
»Charlie?« Ihr Lachen klang schrill. »Er ist ätzend. Hängt immer rum, auch wenn ganz klar ist,
dass ihn niemand dabeihaben will. Alle hassen ihn.«
»Alle?«
»Ja.«
»Hat Ronnie ihn gehasst?«
Sie zögerte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Aber Ronnie hatte auch keine Antenne für diese
Dinge.«
»Was ist mit diesem anderen Freund von Ronnie? Neil oder Neilly. Was können Sie mir über den
erzählen?«
»Ist das der Typ, der letzte Nacht da war?«
»Ja.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte ihn noch nie gesehen.« Sie schien sich für das Buch auf dem
Sessel zu interessieren, nahm es in die Hand und blätterte darin herum, als ob sie lesen
würde.
»Und Ronnie hat Ihnen gegenüber nie einen Neil oder Neilly erwähnt?«
»Nein.« Sie wedelte mit dem Buch in Rebus' Richtung. »Aber er hat über jemanden namens Edward
geredet. Schien wegen irgendwas sauer auf ihn zu sein. Hat häufiger laut diesen Namen gebrüllt,
wenn er allein in seinem Zimmer war, nach einem Schuss.«
Rebus nickte bedächtig. »Edward. Vielleicht sein Dealer?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ronnie ist manchmal ziemlich ausgeflippt, wenn er sich einen
Schuss verpasst hatte. Da war er wie ein anderer Mensch. Aber er konnte auch so süß sein, so
zärtlich...« Ihre Stimme verstummte, die Augen glänzten.
Rebus sah auf seine Uhr. »Okay, was halten Sie davon, wenn ich Sie jetzt zu Ihrer äh Wohnung
zurückfahre? Dann können wir uns vergewissern, dass niemand das Haus beobachtet.«
»Ich weiß nicht...« Die Angst kehrte in ihr Gesicht zurück, machte sie um Jahre jünger,
Weitere Kostenlose Bücher