Daughter of Smoke and Bone
Pferd?« Sie blickte zu ihm empor. Seine Stimme war ihr von Anfang an bekannt vorgekommen, aber die Vertrautheit war weit entfernt und vage, wie etwas, was sie geträumt hatte. Sie versuchte, durch die Maske zu spähen, aber er war zu groß, und aus ihrer Perspektive lag alles, was sie durch die Augenöffnungen sehen konnte, tief im Schatten.
»Es ist wahr«, bestätigte er. »Ich bin nicht wirklich ein Pferd.«
»Und was seid Ihr dann?« Jetzt war Madrigal wirklich neugierig geworden – wer war dieser Mann? Jemand, den sie kannte? Masken waren immer auch für Streiche gut, und am Geburtstag des Kriegsherrn wurde viel Schabernack getrieben. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich das am heutigen Abend jemand bei ihr trauen würde.
Seine Antwort wurde vom Pfeifen der letzten Musikergruppe verschluckt. Triller wie Vogelzwitschern, schwirrende Lautensaiten, die kehlig klagenden Stimmen der Sänger, und über allem, wie ein Herzschlag unter der Haut, der aufpeitschende Rhythmus der Trommeln. Von allen Seiten herrschte Gedränge, so dass der Fremde dicht an sie gepresst wurde und sie seine massigen, breiten Schultern durch seinen Umhang fühlte.
Und seine Hitze.
Auf einmal war sich Madrigal ihres knappen Kleids und ihrer zuckerglänzenden Haut wieder allzu bewusst, ihres eigenen rasenden Herzschlags, der Hitze, die auch in ihr aufstieg.
Errötend versuchte sie ein Stück von ihm abzurücken, wurde aber gleich wieder gegen ihn geworfen. Sein Duft war warm und voll: Gewürz und Salz, das Leder seiner Maske und noch etwas anderes, Kräftiges, Tiefes. Sie konnte es nicht identifizieren, aber es war unwiderstehlich – am liebsten hätte sie sich an ihn geschmiegt, die Augen geschlossen und diesen Geruch tief eingeatmet. Er hielt sie weiter im Arm, wehrte das ungestüme Gedränge ab, schützte sie vor Stößen. Nun gab es nur noch einen Weg – sie mussten sich mit der Menge weitertreiben lassen, die wie durch einen Trichter auf die Agora zuströmte. Es gab kein Zurück mehr.
Der Fremde war hinter ihr. »Ich bin gekommen, um dich zu suchen«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich bin gekommen, um dir zu danken.«
»Mir zu danken? Wofür?« Sie konnte sich nicht umdrehen, denn auf der einen Seite wurde sie von einer Zentaurenflanke bedrängt, auf der anderen von einer Kobra. Einen Moment meinte sie, Chiro in dem Getümmel zu entdecken, und dann kam die Agora in Sicht – direkt vor ihnen, eingerahmt vom Waffenarsenal und der Kriegsakademie. Die Laternen über ihnen waren wie Sternbilder, die mit ihrem Glitzern die echten Sterne und auch die Monde auslöschten. Madrigal ging der Gedanke durch den Kopf, ob Nitid – die neugierige Nitid – sie wohl trotzdem sehen konnte.
Es wird etwas geschehen.
»Ich bin gekommen, um dir zu danken, dass du mir das Leben gerettet hast«, flüsterte der Fremde dicht an ihrem Ohr.
Madrigal hatte schon vielen das Leben gerettet. Sie war in der Dunkelheit über Schlachtfelder gekrochen, war durch Seraphim-Patrouillen geschlüpft, um Seelen zu sammeln, die sonst der Auflösung anheimgefallen wären. Sie hatte einen Überfall auf eine Engel-Stellung angeführt, die ihre Kameraden in einer Schlucht gefangen hielten, und ihnen so Gelegenheit zur Flucht verschafft. Sie hatte den Pfeil eines Engels aus dem Himmel geschossen, der auf einen Kameraden zuschwirrte und ihm den sicheren Tod gebracht hätte. Sie hatte viele Leben gerettet. All diese Erinnerungen zogen schnell wie ein Fingerschnippen durch ihr Bewusstsein, bis nur noch eine übrig blieb.
Bullfinch. Nebel.
Feind.
»Ich habe deinen Rat angenommen«, fuhr er fort. »Und weitergelebt.«
Auf einmal war es, als strömte flüssiges Feuer durch Madrigals Adern. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, sein Kopf geneigt, so dass sie jetzt endlich ins Innere seiner Maske schauen konnte.
Seine Augen loderten wie Flammen.
»Du«
, flüsterte sie.
Wahnsinn
Die Flut aus Körpern schwemmte sie auf die Agora, ein Strom aus Ellbogen und Flügeln, Fell und Fleisch, Hörnern und Haaren, und Madrigal wurde mitgespült, sprachlos, und ihre Hufe berührten kaum noch das Kopfsteinpflaster.
Ein Seraph, mitten in Loramendi.
Nicht irgendein Seraph – nein, ausgerechnet d
ieser
Seraph. Der, den sie berührt, den sie gerettet hatte. Hier, im Käfig. Die Hände, deren Hitze sie selbst durch das Leder seiner Handschuhe spürte, auf ihren Armen. Der Engel, der ihretwegen lebte.
Er war hier.
Es war der reine Wahnsinn. Ihre
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