Davina
Notfälle das allerletzte Mittel, das an alle Mitarbeiter des KGB ausgegeben wurde. Kaledin zögerte, aber nur einen kurzen Augenblick. Seine Machtfülle umgab ihn wie ein unsichtbarer Mantel – eine Machtfülle, die so gewaltig war, daß nur der Vorsitzende des Politbüros seine Befehle rückgängig machen konnte. Die Meldungen bezogen sich auf die Tochter, einen männlichen Begleiter und eine britische Agentin, die sich auf dem Ausflugsdampfer ›Alexander Newsky‹ befanden, der am Abend in Sewastopol anlegen sollte. Ohne Zugang zu Wolkows persönlichen Akten gab es keine Möglichkeit, festzustellen, wer diese Personen waren.
»Sie sagen, der Ausflugsdampfer hat Jalta bereits verlassen? Gut. Geben Sie einen Funkspruch an den Kapitän des Schiffes durch. Er soll unverzüglich handeln, wenn er von einem Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, der sich als Passagier an Bord befindet, darum ersucht wird. Und niemand darf das Schiff in Sewastopol verlassen, bis sich dieser Mitarbeiter gegenüber dem Kapitän ausgewiesen hat. Öffnen Sie General Wolkows Safe und legen Sie dessen Akten zur Einsicht bereit. Ich komme selbst, um mich mit dieser Angelegenheit zu befassen. Und noch eines …« Er legte eine kleine Pause ein, während Tatitschew Blut schwitzte, weil er fürchtete, etwas falsch gemacht zu haben. »Noch eines, Major. Veranlassen Sie alles Notwendige, damit General Wolkows Ermordung geheimbleibt. Beseitigen Sie alle Zeugen. Es darf keinen Skandal geben. Wenn Irina Sasonowa gefunden wird, lassen Sie sie in die Dienststelle bringen, damit ich sie persönlich verhören kann.« Er legte auf, und Tatitschew klatschte den Hörer auf den Apparat. Er nahm den Schlüsselbund mit dem silbernen Ring in die Hand, den Wolkow immer benutzt und ständig bei sich getragen hatte. Jeder Schlüssel war nummeriert. Er eilte zum persönlichen Arbeitszimmer des Generals, wo sein Safe stand.
»Was soll ich bloß tun?« flüsterte Davina leise vor sich hin. »Wie kann ich ihn davon abhalten?«
Im Schlafzimmer war es stickig und heiß, die Nachmittagstemperatur stieg auf über dreißig Grad, und sie war ruhelos auf und ab gegangen, als befände sie sich in einem Käfig. Einen Augenblick dachte sie in ihrer Verzweiflung an Sasonow, der in England wartete, der ihr vertraute und voller Hoffnung war, und sie zwang sich, ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren.
Es war jetzt nicht mehr notwendig, die einzelnen Indizien zusammenzusetzen und die Schlussfolgerung daraus zu ziehen – ihr Verdacht, daß Peter Harrington ein Verräter war, war erwiesen. Sie hatte den schlüssigen Beweis in der Hand.
Sie war so empört, daß sie am ganzen Leib bebte, als hätte sie Fieber. Sie warf das Ding, das sie im Futter ihrer Handtausche entdeckt hatte, auf den Fußboden, wo es rot in der hereinfallenden Sonne zu glühen schien.
Dann bückte sie sich und hob es auf. Sie schob es in die Tasche ihres Kleides. Eine Pistole, sagte sie zu sich. Wenn ich nur eine Pistole hätte … aber es gab keine Pistole, und auch wenn sie eine gehabt hätte, hätte sie nicht gewußt, wie sie damit umgehen sollte. Das Gefühl hilfloser Ohnmacht war so überwältigend, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten; sie wischte sie sich zornig wieder ab. Sie nannte sich selbst eine Idiotin, eine Idiotin, die kostbare Zeit vergeudete, nur um sich vorzustellen, wie es ihr gelingen könnte, einen Mann auszuschalten, der ausgebildet war, andere Menschen zu töten oder mit einem einzigen Hieb zum Krüppel zu schlagen.
Schlauheit und kein falsches Heldentum, das war der einzige Weg, Irina Sasonowa und den jungen Mann in Sicherheit zu bringen. Sie begriff und akzeptierte, daß das nur zu schaffen war, wenn sie selbst zurückblieb. Sie betrachtete sich im Spiegel: ihr Gesicht schien ihr fremd, ihre Wangen waren eingefallen, die sonnengebräunte Haut gespannt, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr gebetet, aber jetzt tat sie es und flüsterte: »Lieber Gott, gib mir den Mut. Lass mich nicht darüber nachdenken. Lass mich nur tapfer sein.«
Dann öffnete sie die Tür und ging hinunter, um das Mädchen und den jungen Mann zu suchen.
Für die Fahrt zum Hafen nahmen sie den Bus. Sie saß neben Irina, während Harrington und Poliakow Plätze weiter vorn fanden. Harrington befand sich in redseliger Stimmung; er sprach mit einem russischen Wortschwall auf den jungen Mann ein. Sie hoffte, er werde nicht bemerken, wie still und in
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