Days of Blood and Starlight
laufen, und später würden sie zu Soldaten heranwachsen, so wie sie, sterben und immer wieder sterben, während der Krieg weiterging. Und weiterging.
Für immer.
Wenn sie jetzt zurückschaute, konnte Karou kaum fassen, wie naiv sie gewesen war. Wie hatte sie nur glauben können, dass die Welt je anders sein könnte und dass sie diejenige war, die sie ändern würde?
Die Erben
Jetzt stand Karou an ihrer Tür, streckte die Hand aus und sagte: »Thiago, gib mir den Zahn.«
Er kam noch näher, und als sein Brustkorb an ihre Fingerspitzen stieß, zog sie sie schnell zurück. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Er war so nah; sie wollte wirklich zurückweichen, aber dadurch würde sie ihm die Gelegenheit geben, in ihr Zimmer zu kommen, und das durfte sie auf keinen Fall. Seit sie mit ihm verbündet war, hatte sie alles darangesetzt, nie mit ihm allein zu sein. In seiner Nähe fühlte sie sich klein, so schwach im Vergleich zu ihm, und so … menschlich.
Mit der überschwänglichen Geste eines Zauberkünstlers öffnete er die Hand und hielt ihr den Tigerbackenzahn hin, als würde er sie herausfordern, ihn zu nehmen. Was würde er dann tun – ihre Hand packen?
Sie zögerte, argwöhnisch.
»Ist der für Amzallag?«, fragte Thiago.
Sie nickte. Er hatte sie um einen Körper für Amzallag gebeten, und den würde er bekommen. Was bin ich doch für eine gehorsame kleine Helferin …
»Gut. Ich habe ihn mitgebracht.« Er hob seine andere Hand, in der er ein Turibulum hielt.
Ihr wurde flau im Magen. Also war die Sache bereits erledigt. Sie wusste nicht, warum dieser Teil der Prozedur sie so sehr verstörte; wahrscheinlich war es der Umstand, dass zwei Chimären in der Grube verschwanden und nur eine wieder herauskam. Sie hatte die Grube selbst noch nie gesehen und hoffte, dass sie das auch nie würde, aber an manchen Tagen konnte sie sie riechen: den bestialischen Verwesungsgestank, der das Unvorstellbare real machte. Ein Turibulum war sauber und simpel, und die Körper, die sie erschuf, waren so rein wie Thiagos Klamotten. Es waren die anderen Körper, die ihr zu schaffen machten; die Körper, die in der Grube landeten.
Aber darin, wie in so ziemlich allem anderen, war sie allein. Thiago war die Ruhe selbst. Er schwang das Turibulum, als hätte er nicht gerade einen Kameraden umgebracht und seinen Körper in eine Grube voller verwesender Leichen geworfen. Schließlich war dieser Kamerad dazu bereit gewesen; bereit, alles zu tun, was ihrer Sache diente, und da die alten Körper den neuen Anforderungen einfach nicht mehr gerecht wurden, ersetzte Karou sie, einen nach dem anderen.
Der Weiße Wolf starrte sie mit seinen blassblauen Augen an, und sein Blick war so durchdringend, dass sie um ein Haar zurückgewichen wäre. »Es hat begonnen, Karou. Jetzt wird sich unsere harte Arbeit endlich auszahlen.«
Sie nickte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Rebellion. Rache. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«
»Nein. Aber es ist noch Zeit.«
Vor einigen Tagen hatte Thiago fünf Patrouillen zu jeweils sechs Soldaten losgeschickt. Worin genau ihre Mission bestand, wusste Karou nicht. Sie hatte gefragt, aber sie hatte nicht wirklich Protest eingelegt, als Thiago geantwortet hatte: »Mach dir darüber keine Gedanken, Karou. Du solltest deine Kräfte für die Wiedererweckungen schonen.«
War es nicht genau das, was Brimstone getan hatte? Er hatte dem Weißen Wolf den Krieg überlassen, und nun überließ sie ihm die Rebellion.
»Ich gebe zu, dass ich nervös war.« Thiago warf den Zahn in die Höhe und fing ihn lässig wieder auf. »Ich war froh, endlich einen Grund zu haben, zu dir heraufzukommen. Lass mich dir helfen, Karou.«
»Ich brauche keine Hilfe.«
»Es wird mir helfen, etwas zu tun zu haben.« Mit diesen Worten trat er auf sie zu, so dass sie ihm entweder Platz machen oder so etwas wie eine Umarmung riskieren musste, und dann hatte er sich auch schon an ihr vorbeigedrängt. Er war in ihrem Zimmer, und es schien augenblicklich um ihn herum zusammenzuschrumpfen.
Es war ein schöner Raum – oder war es zumindest einmal gewesen. An der hohen Decke glitzerten Mosaike, und verblasste Tafelbilder zierten die Wände. Zwei Fenster mit geschnitzten Läden waren zur Nacht hin geöffnet, und die fast einen Meter tiefen Simse verrieten, dass die Außenwände dicke Festungsmauern waren. Das Zimmer war nicht sehr groß; im Grunde waren andere Räume für Karous Arbeit besser geeignet, aber sie hatte sich dieses hier
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