Days of Blood and Starlight
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Ich tue es nicht für sie , würde Karou erwidern. Es war ein eingeübter Gedanke, an den sie sich verzweifelt klammerte. Ich tue es für Brimstone. Und für alle Chimären, die die Engel noch nicht umgebracht haben. Sie musste nur an Loramendi denken, um sich das volle Ausmaß ihrer Verantwortung bewusstzumachen. Niemand außer ihr konnte die Chimären vor dem Aussterben retten.
Von irgendwo draußen erklang der Wächterruf: ein einziger kurzer, hoher Pfiff. Karou sprang auf und war mit einem großen Schritt am Fenster. Eine Patrouille kehrte zurück, die erste von fünf. Mit pochendem Herzen lehnte sie sich aus dem Fenster und ließ den Blick über den Himmel schweifen. Dort waren sie: Sie kamen aus Richtung des Atlasgebirges, wo das Portal hoch und unsichtbar in der dünnen Luft hing, aber sie waren noch zu weit entfernt, um erkennen zu können, um welches Team es sich handelte. Doch als Karou die Augen zusammenkniff, sah sie, dass die Soldaten zu sechst waren. Das war Grund zur Freude – wenigstens ein Team war vollzählig.
Näher, näher, und dann sah sie ihn: groß und schlank, mit Hörnern so lang und spitz wie Piken. Ziri. Ein Stein fiel Karou vom Herzen, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte. Ziri war wohlbehalten wieder da. Jetzt konnte sie auch die anderen sehen, die über der Kasbah kreisten und schließlich auf dem Hof landeten. Die Hälfte ihre Kreationen, keine zwei davon gleich in Größe oder Gestalt, aber alle ähnlich bedrohlich: bis an die Zähne bewaffnet, mit Blut und Asche besudelt. Karou freute sich, auch Balieros, den Truppenführer, zu sehen, aber der größte Teil ihrer Erleichterung galt Ziri.
Ziri war ein Kirin, er gehörte zu ihrem Stamm.
Wenn Karou ihn anschaute, leuchteten Madrigals Erinnerungen in ihr auf, und sie sah die Männer ihres Stammes vor sich, wie schon so lange nicht mehr. Sie war erst sieben Jahre alt gewesen, als die Engel sie zur Waise gemacht hatten. An jenem schicksalsschweren Tag hatte sie draußen gespielt, ein freies Kind in einer wilden Welt, und als sie nach Hause zurückkam, hatten die Sklavenhändler alles, was sie kannte, zunichtegemacht, und nichts würde je wieder so sein wie zuvor. Tod und Stille, Blut und Verlust, und – tief in den Höhlen zusammengedrängt – ein paar der Stammesältesten, die es geschafft hatten, die kleinsten Babys zu retten.
Ziri war eins dieser Babys gewesen, so winzig wie ein neugeborenes Kätzchen. Karou hatte ein paar Erinnerungen an ihn in Loramendi: Ständig war er ihr mit hochrotem Gesicht nachgelaufen, und ihre Pflegeschwester Chiro hatte sie gerne damit geneckt, dass er bestimmt in sie verknallt war. »Dein kleiner Kirin-Schatten«, hatte sie ihn genannt.
»Er ist nicht verknallt«, hatte Madrigal erwidert. »Er sehnt sich nur nach der Familie, die er nie hatte, und als Kirin bin ich so was wie seine große Schwester.«
Sie hatte tiefes Mitgefühl für ihn empfunden, für diesen Jungen, der eine Waise war wie sie, aber nicht einmal Erinnerungen an sein Zuhause oder seine Familie hatte, an denen er sich festhalten konnte. Ein paar der Stammesältesten hatten überlebt, und noch ein paar andere Waisen in Ziris Alter, aber Madrigal war die einzige erwachsene, aber nicht uralte Kirin, die er je kennengelernt hatte.
Und nun hatten sie ihre Rollen getauscht. Was für eine Ironie des Schicksals, dass es jetzt sie war, die in ihm all das sah, was sie verloren hatte. Inzwischen war er erwachsen, und er war groß, selbst ohne die Antilopenhörner, die ihn noch wesentlich größer machten. Seine menschlichen Beine gingen unterhalb der Knie genau wie die von Madrigal in Antilopenläufe über, und zusammen mit seinen Fledermausflügeln verliehen sie ihm die typische beschwingte Gangart der Kirin – eine Leichtigkeit, als wäre die Erde unter seinen Füßen unwichtig – als könnte er sich jeden Moment in die Lüfte schwingen und alles meilenweit unter sich lassen.
Doch jetzt hatte sein Gang nichts Beschwingtes, und sein sonst so lebhaftes Gesicht war zu einer grimmigen Maske erstarrt. Als seine Patrouille sich in Formation stellte, um das Eintreffen ihres Generals abzuwarten, war er der Einzige, der zu Karous Zimmer aufblickte. Ihr Herz machte einen Satz. Zögerlich hob sie eine Hand zur Begrüßung, und ihr gepeinigter Arm schmerzte bei der simplen Geste, die … er nicht erwiderte. Er senkte den Kopf wieder, als wäre sie gar nicht da.
Traurig ließ Karou die Hand sinken.
Wo kamen sie her? Was hatten sie gesehen? Was
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