Days of Blood and Starlight
Meer und die Sonne, und mit einem Mal schien es dem Mann, als wäre er ganz allein auf der Welt. Erst als der erste Blutgeier am Himmel auftauchte, erwachte er aus seiner Starre, flog von seinem Turm hinab und betrat die Baracken. Was er dort vorfand, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Hundert tote Kameraden, im Schlaf ermordet. Hundert Kehlen, so ordentlich aufgeschlitzt wie Briefe. Hundert rote Fratzen, und an der Wand darüber, ebenfalls in Rot, eine neue Botschaft:
Die Engel müssen sterben.
Es war ein Echo der berüchtigten Worte des Imperators, die seit langer Zeit vom Turm der Eroberung donnerten und jedem Seraph, ob Soldat oder Zivilist, von Kindesbeinen an eingebläut wurden: Die Bestien müssen sterben .
Der Wachmann hätte auf der Stelle desertieren sollen. Er musste wissen, dass er für sein Versagen hängen würde. Er hatte die Angreifer nicht bemerkt, und das war schlicht unentschuldbar, selbst wenn es wirklich stimmen sollte, was er, unter Schock und völlig außer sich, berichtete, als er die Stadt erreichte. Thisalene war der größte Sklavenhafen des Imperiums, auf dem Landweg nur eine halbe Tagesreise – auf Flügeln höchstens eine Stunde – von der Hauptstadt entfernt. Die schwer befestigten Mauern wurden auch von Soldaten aus dem Regiment des Wachmanns patrouilliert, und als er sah, dass sie nicht tot waren, ächzte er: »Dank den Göttersternen! Ihr müsst die Wachen verdreifachen! Sie sind am Leben! Sie sind zurück, und wir werden alle sterben!« Die Soldaten schickten nach ihrem Kommandanten, und bis er eintraf, hatte der Schock des Mannes nachgelassen. »Ich bin nicht eingeschlafen, Herr, das schwöre ich«, versicherte er gleich seinem Vorgesetzten.
»Hat das jemand gesagt? Was ist passiert, Soldat? Du bist ja voller Blut.«
»Ihr müsst mir glauben. Ich würde nie auf meinem Posten einschlafen. Sie sind am Leben. Jedes normale Lebewesen hätte ich gesehen.«
»Was soll das heißen? Wer wird sterben? Wer ist am Leben?«
» Wir werden sterben. Ich habe nie die Augen zugemacht. Es waren die Lebenden Schatten. Sie sind zurück.«
Willkommensfeier
Karou hatte viele Stärken, aber Auto fahren gehörte eindeutig nicht dazu. Sie war zu jung, um ihren Führerschein zu machen, was ihr unter den gegebenen Umständen irgendwie witzig vorkam. Wie es in Marokko war, wusste sie nicht, aber in Europa musste man achtzehn sein, was bei ihr noch einen ganzen Monat dauern würde – es sei denn, man zählte ihre beiden Leben zusammen. Das hätte ich mir mal anrechnen lassen sollen , dachte sie, während sie in dem alten blauen Lastwagen, den sie für ihre Einkaufstouren benutzte, durch die Gegend holperte und schlitterte.
Bei einem besonders großen Schlagloch kippte der Lastwagen zur Seite, hing einen Moment mit zwei Rädern in der Luft und krachte dann so heftig zurück auf den Boden, dass Karou von dem Aufprall fast einen halben Meter in die Höhe geschleudert wurde. Uff. »Sorry!«, rief sie über die Schulter, und ihre Stimme triefte geradezu vor falscher Freundlichkeit. Irgendwo im hinteren Teil des Lastwagens, vor neugierigen Menschenaugen versteckt, kauerte Ten.
Karou steuerte das nächste Schlagloch an.
»Hör mal, wenn ich nicht hier sein wollte, wäre ich schon längst über alle Berge«, hatte sie zu Thiago gesagt, bevor sie losgefahren war – trotz ihrer Proteste mit der Wölfin im Schlepptau. »Ich brauche wirklich keine Aufseherin.«
»Sie ist keine Aufseherin«, hatte er erwidert. »Ach Karou, Karou.« Die Intensität seiner eisblauen Augen war so entnervend wie immer. »Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn du allein losziehst. Wenn dir etwas zustoßen würde, wäre ich verloren.« Nicht wir wären verloren, sondern ich .
Bäh.
Natürlich hätte es schlimmer kommen können. Zum Beispiel, wenn Thiago sie selbst begleitet hätte, und einen schrecklichen Moment lang hatte es tatsächlich danach ausgesehen. Aber die Lebenden Schatten würden bald von ihrer Mission zurückkehren, und so hatte er sich letztendlich dann doch entschieden, in der Kasbah auf ihre Ankunft zu warten.
»Besorg auch etwas für die Feier, wenn du kannst«, hatte er ihr aufgetragen, und sofort sträubten sich Karous Nackenhaare.
»Was feiern wir denn?«
Als Antwort hatte Thiago nur auf sein Banner gedeutet und vielsagend gelächelt. Sieg und Vergeltung.
Natürlich.
Karou fragte sich, was man zur Feier von Sieg und Vergeltung wohl mitbringen könnte. Alkohol? Der würde sich in Marokko
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