Days of Blood and Starlight
hatte. Es kümmerte sie überhaupt nicht, dass sie freiwillig hier war, dass sie sich bewusst dafür entschieden hatte, hierherzukommen und ihnen zu helfen. Im Gegensatz zu ihnen allen hätte sie auch einen anderen Weg wählen können. Sie hatte noch ein anderes Leben, und in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als einfach nach Prag zurückzufliegen, zu ihren Freunden, zu ihrer Malerei, zum Teetrinken und zu so einfachen Sorgen wie Schmetterlingen im Bauch – Papilio stomachus , erinnerte sie sich und spürte einen Stich im Herzen. Wie klein und seltsam ihr dieses Leben jetzt erschien.
Natürlich würde sie nicht gehen. Ten hatte recht: Sie hatte eine Schuld zu begleichen. Aber sie hasste es, wie unendlich feige sie geworden war. Brimstone würde die gehorsame kleine Scham-Kreatur, zu der sie sich entwickelt hatte, wahrscheinlich kaum noch erkennen – seinen Befehlen war sie jedenfalls nie so folgsam nachgekommen.
Als sie zurück in ihrem Zimmer waren, hob Karou die Kette auf, die sie am Tag zuvor angefangen hatten, während Ten ihre Werkzeuge auf dem Tisch ausschüttete. Schraubzwingen purzelten in alle Richtungen, und Karou nahm eine davon in die Hand, legte sie aber nicht an. Sie war viel zu fertig, um zu arbeiten.
Was wollte Thiago vor ihr geheim halten?
»Soll ich den Schmerztribut für dich entrichten?«, fragte Ten. Karou sah zu ihr auf. Die Wölfin bot nicht oft ihren Schmerz an, und Karou überraschte sich selbst, indem sie den Kopf schüttelte. »Nein, danke.« Erst als sie ihre eigene Antwort hörte, wurde ihr klar, dass sie etwas tun würde.
Aber was werde ich tun?
Unruhig spielte sie mit der Schraubzwinge, drehte sie auf und zu, auf und zu.
Oh …
Wusste sie überhaupt noch, wie das ging? Es war so lange her.
Was soll ich tun, um Schmerzen zu bekommen?
Nichts. Du sollst keine Schmerzen haben. Nur Freude.
»Du kennst wahrscheinlich nicht die Geschichte von Blaubart, oder?«, fragte sie Ten.
» Blau bart?« Ten beäugte Karous Haare. »Ist das ein Verwandter von dir?«
Karou lächelte schief. »Ich habe keine Verwandten, wie du dich vielleicht erinnerst.«
»Keiner von uns hat noch Verwandte«, erwiderte Ten in sachlichem Ton, und Karou wurde bewusst, dass es stimmte. Niemand von ihnen hatte eine Familie. Sie waren wahrlich ein Volk, das nichts mehr zu verlieren hatte.
Karou war ganz ruhig, als sie die Schraubzwinge an ihrer Hand befestigte, an der besonders schmerzempfindlichen Stelle zwischen Daumen und Handfläche. »Blaubart war ein reicher Mann in einem großen Schloss. Als er eines Tages seine junge Braut nach Hause nahm, gab er ihr die Schlüssel zu allen Türen und sagte ihr, dass sie überall hingehen durfte, nur nicht durch die kleine Tür, die in den Keller führte. Dort durfte sie unter keinen Umständen hingehen.« Sie zog die Schraube an, und der Schmerz begann sich zu öffnen wie eine Blume.
»Und dort ist sie bestimmt als Allererstes hingegangen«, vermutete Ten.
»Ja, sobald er ihr den Rücken zugewandt hatte.«
Ten hatte sich gerade umgedreht, um die Teekanne aus dem Schrank zu holen. Bei Karous Worten wirbelte sie herum und fluchte laut.
An ihrer Reaktion erkannte Karou, dass es funktioniert hatte; sie hatte sich tatsächlich an Akivas Unsichtbarkeitszauber erinnert. Damals war ihr der Schmerz wie eine schrecklich große Sache vorgekommen, doch jetzt pulsierte er im Rhythmus ihres Herzschlags durch ihren Körper und fühlte sich fast genauso natürlich an.
Ten kam es gar nicht in den Sinn, dass Karou noch an ihrem Platz sitzen könnte. Die Wölfin dachte, sie wäre wieder durchs Fenster verschwunden, und so stürzte sie eilig darauf zu, während Karou sich hinter ihr aus der Tür schlich. Ironischerweise machte der entfernte Türriegel ihr die Flucht um einiges leichter, sie rannte die Treppen hinunter und zurück auf den Hof, um zu hören, was sie konnte, bevor Thiago von ihrem Verschwinden erfuhr.
Es war nicht viel.
Es war nicht ihr Schatten, der sie verriet. Der Zauber verbarg keine Schatten, das wusste sie, also hielt sie sich sorgsam im Schutz der Mauer, im Dunkeln. Sie bewegte sich absolut lautlos, ja, sie berührte nicht einmal den Boden. Trotzdem war sie gerade erst ein paar Minuten im Hof, gerade lange genug, um von den abscheulichen »Botschaften« zu erfahren, die die Rebellen den Seraphim geschickt hatten, und von der Antwort des Imperators – Guter Gott, Heerscharen waren auf dem Marsch, die Dominion, bereit für erbarmungslose
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