Days of Blood and Starlight
würde – war er noch nie getötet worden. Und auch wenn es vielleicht schrecklich albern und heuchlerisch war, sich um seine »Reinheit« zu sorgen, tat Karou genau das. Er war der letzte Überlebende ihres Stammes, im letzten wahren Körper ihres Volkes. Darin lag etwas Heiliges, und als er zum ersten Mal mit der Patrouille losgeflogen war, hatte sich eine kleine, kalte Angst in ihr gebildet, die immer weiter anwuchs und erst nachließ, als er zurückkehrte.
Und jetzt wartete sie erneut – darauf, ihn zu sehen und sich vergewissern zu können, dass die Kirin nicht völlig ausgelöscht waren –, aber diesmal war es anders. Diesmal konnte sie sich nicht vorstellen, wie er überleben sollte. Ihre letzten Worte an ihn – die einzigen Worte, die sie je zu ihm gesagt hatte – waren so entsetzlich grausam gewesen. Als wäre er an allem schuld. Würde sie jemals die Chance haben, sie zurückzunehmen?
Suchen, auffädeln. Zähne, Zähne.
Die Zeit verstrich, und ihre Angst wuchs. Die Sonne stieg am Himmel empor, schleifte die Stunden qualvoll langsam hinter sich her, und nie war ein Tag so träge, so heiß, so endlos gewesen. Karou fühlte sich um Jahre gealtert, als es endlich dämmerte. Wieder und immer wieder fand sie die Antilopenzähne in ihrer Handfläche.
In jener Nacht in London hatte sie sich schließlich dafür entschieden, die Antilopenzähne zu ziehen. Sie beschwor nicht Ziris Tod herauf, sagte sie sich, sondern sie bereitete sich nur auf das Unvermeidliche vor. Alle Chimärensoldaten starben. Vielleicht war jetzt seine Zeit gekommen. Sie versuchte sich auszumalen, wie er in einem Turibulum zurückkehrte, sein wahrer Körper – der letzte Kirin-Körper in ganz Eretz – irgendwo zurückgelassen, gebrochen oder verbrannt –, und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie mit dem Gedanken klarkam.
Solange er sie von der anderen Möglichkeit ablenkte: dass Ziri vielleicht gar nicht zurückkommen würde.
Die erste Prüfung
Auf einer ungepflasterten Straße im Süden von Marokko kam ein Auto knirschend zum Stehen und spuckte zwei Passagiere mit dicken Rucksäcken aus, bevor es in einer Wolke von Staub und unter den Rufen des Berber-Chauffeurs, der ihnen Glück wünschte, verschwand. Zuzana und Mik hielten sich die Hände vors Gesicht und husteten. Das Dröhnen des Motors verklang, und als die Luft sich klärte und sie sich umsehen konnten, stellten sie fest, dass sie sich am Rand eines gigantischen Niemandslandes befanden.
Zuzana legte den Kopf in den Nacken. »Ach du heilige Scheiße. Mik! Was sind das für gruselige Lichter?«
Mik blickte auf. »Wo?«
Sie gestikulierte zum Himmel – zum gesamten Himmel –, und er ließ den Blick zweimal hin- und herschweifen, bevor er fragte: »Meinst du die Sterne ?«
»Niemals! Ich hab in meinem Leben schon genug Sterne gesehen. Das sind so, ähm, so ganz weit entfernte Pünktchen im Weltall. Die Lichter da sind direkt über uns .«
Was tagsüber ein karges, staubfarbenes Land war, wurde nachts zu einem tiefschwarzen Wandteppich, besetzt mit abstrus großen Sternen. Mik lachte, und auch Zuzana lachte, und sie fluchten und staunten mit weit zurückgelegten Köpfen. »Diese Dinger könnte man pflücken wie Früchte «, meinte Zuzana und streckte eine Hand aus, als wollte sie die Sterne vom Himmel holen.
Dann standen sie eine ganze Weile schweigend da und blickten auf die schroffe, unwegsame Landschaft hinaus, die sich in der Dunkelheit meilenweit vor ihnen erstreckte. Das Bild hätte aus einem Dokumentarfilm stammen können – und nicht aus einem der schönen Sorte. In betont munterem Tonfall fragte Mik: »Wir werden da draußen aber nicht sterben, oder?«
»Nein«, antwortete Zuzana entschieden. »So was passiert nur in Filmen.«
»Ach ja. Im wirklichen Leben stirbt nie jemand in der Wüste und wird zu einem ausgebleichten Skelett …«
»Das dann von Kamelhufen zertrampelt wird«, fügte Zuzana hinzu.
»Ich glaube, Kamele haben gar keine Hufe.« Mik klang nicht sehr überzeugt.
»Na ja, egal, was sie haben, gerade in diesem Moment würde ich jedes Kamel küssen. Wir hätten uns Kamele besorgen sollen.«
»Da hast du völlig recht«, stimmte er zu. »Lass uns zurückgehen.«
Zuzana schnaubte. »Wow, was für ein unerschrockener Wüstenerkunder du doch bist. Wir sind gerade mal fünf Minuten hier.«
»Okay, aber wo genau ist hier ? Woher weißt du, dass wir hier richtig sind? Es sieht alles gleich aus.«
Sie hielt eine Landkarte hoch. Mit roter
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