Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman (German Edition)
hatten.
»Auch bei uns Menschen finden sich diese Kraftabstufungen. Das Merkmal eines hellsichtigen Wächters ist es, diese Gewichtsunterschiede zu erkennen. Der Tod ist überall. Um unserer Aufgabe nachzukommen, müssen wir fähig sein, zwischen toten Tieren, toten Menschen und den Untoten zu unterscheiden. Und danach müssen wir unter den Untoten die Gefährlichen ausmachen und die zur Ruhe bringen.«
»Und wer hat uns zu dieser Aufgabe bestimmt?«, fragte ich, in Gedanken bei Dante. »Warum dürfen wir entscheiden, wer lebt und wer stirbt?«
Als ich das sagte, fühlte ich ein Augenpaar auf mir. Clementine, dachte ich. Doch als ich aufblickte, sah ich Noah ins Gesicht.
Der Rektor nickte nachdenklich. »Weil die Welt ohne Ordnung zum Untergang verdammt ist. Wir sind die Einzigenmit der Fähigkeit, die Untoten zu erspüren. Gerecht ist das wohl nicht, aber es ist nicht unsere Aufgabe, die Rätsel der Natur zu lösen.«
Der Bus fuhr weiter den Sankt-Lorenz-Strom entlang bis zu einem heruntergekommenen Industriegebiet Montreals. Rektor LaGuerre warf einen Blick über die Schulter, als er durchs Hafengebiet kurvte. »Aber Wasser«, sagte er. »Wasser macht die Sache schwierig.«
Wir folgten dem Rektor aus dem Bus und gingen hinunter zum Dock. Riesige, fensterlose Fabrikhallen säumten das Ufer und spuckten unablässig schwarze Dunstwolken in die Luft. Rostende Rohre und zerfressene Stahlträger ragten aus dem Fluss wie die Überbleibsel eines versunkenen Waldes. Das Aroma von Salz und Abwasserkanälen hing in der Luft und zum ersten Mal war ich froh, dass mein Geruchssinn so gelitten hatte.
»Es ist unglaublich schwer, ein totes Lebewesen zu erspüren, wenn es von Wasser umgeben ist«, erklärte der Rektor und blieb am Ende des Docks stehen. Hinter ihm tanzten zahlreiche Ruderboote auf den Wellen. »Und je tiefer das Wasser, desto größer die Herausforderung. Und genau deshalb sind wir hier. Um an unserer
Intuition
zu arbeiten.«
Mir schauderte, während ich das Treibgut am Flussufer betrachtete: Bierdosen, leere Plastikverpackungen und Zigarettenstummel.
»Hier laden die Leute ab, was nicht gefunden werden soll. Waffen, Kleider, Leichen … Der Tod wohnt oft an unbequemen Orten und als Wächter dieser Welt werden Orte wie diese zu Ihrem Arbeitsplatz werden. Viele der Fälle, mit denen Sie in Berührung kommen werden, betreffenertrunkene Kinder – und nach dem Cartesischen Eid werden Sie sie finden und begraben müssen, bevor sie an die Oberfläche kommen und auferstehen.«
Der Geräuschpegel unter den Schülern schwoll an.
Rektor LaGuerre blickte auf das trübe Wasser hinaus. »Da draußen habe ich ein totes Tier versteckt«, sagte er. »Ihre Aufgabe wird es sein, es zu finden, zu identifizieren und, wenn möglich, seine Tiefe zu bestimmen.«
Jeder suchte sich einen Partner. Noahs war Clementine. Ich arbeitete mit Anya, die auf wackligen Plateauschuhen ins Ruderboot kletterte.
Nachdem ich mich hineingesetzt hatte, reichte sie mir die Ruder. »Du ruderst«, sagte sie. »Ich sag dir die Richtung.«
»Warum bestimmst du die Richtung?«, fragte ich.
»Weil ich schwache Arme habe«, sagte sie. »Sport ist nichts für mich.«
»Aber ich bin besser darin, die Toten zu finden.«
Sie schien von meiner Bemerkung beleidigt, schluckte es aber rasch runter. »Ein Grund mehr für mich zu üben.«
»Okay.«
»Okay.«
Wir ruderten los, während der Rektor an der Anlegestelle stand und uns Tipps zum Erspüren der Toten unter Wasser nachrief. Ich versuchte zuzuhören, doch Anya wechselte immer wieder die Richtung. »Mehr nach links. Nein, jetzt nach rechts. ’tschuldigung, ach egal, wieder zurück nach links.«
Frustriert drehte ich mich um. »Kannst du dich nicht einfach für eine Richtung entscheiden und dann dabei bleiben?« Am Rand nahm ich wahr, wie Noah eines seiner Ruder sinken ließ.
Anya deutete nach links. »Mehr da entlang.«
»Das ist falsch«, sagte ich. »Das fühle ich.«
»Ich auch«, sagte Anya. »Nur weil du die Rangerste bist, heißt das noch lange nicht, dass du partout recht haben musst.«
»Aber diesmal schon«, beharrte ich, doch ein lautes Platschen lenkte mich ab.
Clementine und Noah waren knapp hinter uns; ihr Boot schwankte: Noah hatte ein Netz aus dem Fluss gefischt und alberte vor Clementine damit herum.
»Hör auf!« Lachend bedeckte Clementine den Kopf mit den Händen. »Du kippst das ganze Boot.«
Platschend fiel das Ruder in den Fluss und spritzte ihr Wasser in die
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