Dead - Ein Alex-Cross-Roman
Gegenteil, er engt sie immer weiter ein. Und sein Ziel hat er sich bereits ausgesucht.
Nein, seine Ziele. Kyle dachte immer im großen Maßstab.
106
George Wolff und die drei Kinder hatte Kyle verschont, und ich fragte mich, wieso. Vielleicht, weil er jetzt sein Ziel so hochkonzentriert ins Auge gefasst hatte. Ihm war es um die Richterin Nina Wolff gegangen und nur um sie. Also, was hatte er als Nächstes vor? Wie lange würde es dauern, bis er vor meiner Tür auftauchte? Oder vielleicht sogar im Haus?
Der Acht-Uhr-Termin heute gehörte eigentlich Sandy Quinlan, aber sie ließ sich nicht blicken. Was einzig und allein bewirkte, dass ich mich angesichts all der Dinge, die sich um mich herum abspielten, noch ein bisschen unwohler fühlte. Jetzt löste sich also auch meine Praxis in ihre Einzelteile auf, ging vor meinen Augen vor die Hunde.
Außerdem machte ich mir Sorgen. Sandy hatte bis jetzt noch nie einen Termin verpasst, also blieb ich bis nach neun in meinem Büro und wartete auf sie. Dann ließ auch Anthony Demao seinen Termin verstreichen. Was war denn bloß mit den beiden los? Waren sie jetzt ein Paar? Was konnte heute eigentlich noch schiefgehen?
Ich wartete so lange wie möglich, dann rief ich Bree an, um ihr zu sagen, dass ich sie gleich abholen würde. Wir wollten am späteren Nachmittag via Denver nach Montana reisen, um uns Tyler Bells Hütte anzusehen. Wir hatten einfach das Gefühl, dass wir das tun mussten. Sein Haus mit eigenen Augen untersuchen, alles durchsehen, was er hinterlassen hatte.
Beim Verlassen des Gebäudes wäre ich um ein Haar mit Sandy Quinlan zusammengeprallt. Sie stand vor dem Ausgang auf dem Bürgersteig, ganz in Schwarz gekleidet, schweißüberströmt und außer Atem.
»Sandy, was ist denn los?«, sagte ich und versuchte ruhig zu bleiben. »Wo haben Sie denn gesteckt?«
»Oh, Herr Dr. Cross. Ich hatte schon befürchtet, dass ich Sie nicht mehr antreffe. Tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe.« Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu mir hinauf und winkte mich zu sich an den Randstein. »Ich wollte es Ihnen persönlich sagen... ich gehe weg.«
»Weg?«, fragte ich.
»Ich gehe zurück nach Michigan. Ich gehöre einfach nicht nach Washington, und ehrlich gesagt bin ich auch aus einem falschen Grund hierhergekommen. Ich meine, selbst wenn ich hier jemanden kennen gelernt hätte, was hätte es genützt, wenn ich die Stadt hasse?«
»Sandy, können wir vor Ihrem Umzug vielleicht noch eine Sitzung einschieben? Gleich am Montagmorgen?«, schlug ich vor. »Ich fahre weg, sonst hätte ich Ihnen auch am Wochenende einen Termin angeboten.«
Sie lächelte und wirkte dabei so selbstbewusst wie noch nie. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich bin nur hergekommen, um mich zu verabschieden, Herr Dr. Cross. Ich habe mich entschieden. Ich weiß, was ich zu tun habe.«
»Tja dann, also gut«, erwiderte ich. Ich reichte ihr die Hand, doch sie breitete die Arme aus und umarmte mich. Seltsam, gezwungen, fast theatralisch kam mir das vor.
»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis«, flüsterte sie, den Mund an meine Schulter gelegt. »Ich wünschte, ich hätte Sie irgendwo anders kennen gelernt. Nicht als meinen Therapeuten.«
Dann stellte sie sich auf Zehenspitzen und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Plötzlich riss sie die Augen auf - genau wie ich auch, glaube ich - und wurde rot. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich das gemacht habe«, sprudelte sie wie ein Teenager hervor.
»Tja, ich schätze, es gibt für alles ein erstes Mal«, sagte ich. Ich hätte auch wütend reagieren können, aber wozu? Sie zog zurück nach Michigan, das war vielleicht das Beste so.
Nach einer kurzen, peinlichen Stille deutete Sandy mit dem Daumen über ihre Schulter. »Bringen Sie mich noch zu meinem Auto?«
»Meins steht in der anderen Richtung«, erwiderte ich.
Keck neigte sie den Kopf. »Soll ich Sie dann zu Ihrem Auto bringen?«
Ich lachte und nahm es als Kompliment. »Auf Wiedersehen, Sandy. Und viel Glück in Michigan.«
Sie winkte mir mit flatternden Fingern zu und sagte augenzwinkernd: »Viel Glück, Herr Dr. Cross.«
107
Im selben Augenblick spielte DCPK wieder eine andere Rolle, die von Detective James Corning, der gerade seine Überwachungskamera absetzte und zu seinem Autofenster hinausstarrte wie, nun ja, wie jeder beliebige, dämliche Bulle eben. Er hatte gerade ein Foto von Alex Cross beim Kuss mit seiner Klientin Sandy Quinlan geschossen, auch, wenn das natürlich nicht ihr
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