Dead End: Thriller (German Edition)
seinem Mund und meinem ideal war. Er brauchte nur den Kopf zu senken. Er lächelte mich an.
»Dann bis morgen«, sagte er. Und dann ließ er meinen Mantel los, drehte sich um und ging davon.
58
Seit dem Unfall, der sie zum Krüppel gemacht hatte, hatte Evi viele Male geträumt, sie könne rennen. Gelegentlich konnte sie auch fliegen. Nur ein einziges Mal hatte sie geträumt, sie könne Ski laufen, und war in den frühen Morgenstunden zitternd und schweißgebadet aus dem Schlaf geschreckt. Dass sie tanzen konnte, hatte sie noch nie geträumt.
Bis jetzt.
Rockmusik. Bruce Springsteens »Dancing in the Dark«. Ein dröhnender, beharrlicher Rhythmus, laut aufgedreht, damit er trotz des Windes zu hören war. Das Haar flog ihr um den Kopf, die Novemberluft kalt an ihrem Hals, die Wärme eines Männerkörpers, der sich gegen sie presste. Harry. Der Vikar, der in einer Rockband gespielt hatte, der sie aufrecht gehalten und mit ihr in Lancashire auf dem nackten Felsen getanzt hatte. In der Nacht, in der sie sich ineinander verliebt hatten.
Harry war wieder da. Harry in ihren Armen. Sie konnte seinen Atem an ihrer Stirn spüren, erlebte die wunderbare freudige Erwartung eines ersten Kusses. Sie tanzten näher und näher an den Rand der Felskuppe. Er zog ihre rechte Hand an seine Brust, so dass seine frei wurde, um ganz sanft ihr Kinn anzuheben. Sie sah braune Augen lächelnd auf sich herabblicken.
»Evi fällt«, sagte er. Und stieß sie von dem Felsen.
Evi hockte vor dem Bett, und die Schmerzen, die ihren ganzen Körper durchfuhren, waren alles, woran sie denken konnte. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Bloß ein Traum. Sie war nicht gefallen. Vielleicht aus dem Bett, vielleicht kamen daher die plötzlichen Schmerzen, aber es war alles in Ordnung. Sie fand den Lichtschalter. Schnuffel blickte blinzelnd von ihrem Platz auf dem Teppich auf. Dann wedelte sie träge mit dem Schwanz. Kein Grund zur Sorge. Sie würde noch eine Schmerztablette nehmen, vielleicht etwas Heißes trinken und wieder ins Bett gehen. Es war alles in Ordnung.
Außer dass Springsteen noch immer sang.
Irgendwo im Haus lief Musik. Und nicht einfach nur irgendwelche. Es war das Lied, das mehr Bedeutung für sie hatte als jedes anderes. Der Song, den sie sich nicht anhören konnte, der, bei dem sie das Autoradio ausmachte, wenn er mal gespielt wurde, weil sie ihn einfach nicht hören konnte, ohne zu weinen.
Evi biss sich auf die Lippe, tappte um das Bett herum und ging zur Tür. Dann drehte sie sich um und rief leise nach dem Hund. Schnuffel erhob sich widerwillig; weder die Phantommusik noch der Eindringling, der hier eingebrochen sein musste, um die CD einzulegen, beunruhigten den Hund im Geringsten.
Evis CD -Spieler befand sich im Wohnzimmer. Im Flur war es dunkel. Sie ließ Schnuffels Halsband los, und der Hund blieb an ihrer Seite. Die Wohnzimmertür war geschlossen. Evi drehte den Knauf und griff durch die Tür hindurch nach dem Lichtschalter.
Die Musik verstummte. Das Zimmer war leer.
»Such«, flüsterte sie. Schnuffel sah sie an. Das einzig mögliche Versteck waren die Vorhänge vor den großen Fenstern. Der Hund würde es doch bestimmt merken, wenn dahinter jemand stand? An der Stereoanlage leuchteten keinerlei Anzeigen. Sie machte immer so ein leises schwirrendes Geräusch, wenn sie ausgeschaltet wurde: Das hätte sie gehört.
Jetzt, wo sie darüber nachdachte … sie besaß die fragliche Springsteen- CD gar nicht.
Die Hand fest um das Halsband des Hundes gekrallt, hinkte Evi durchs Zimmer und zog die Vorhänge zurück. Niemand da. Schnuffel legte den Kopf schief, als wolle sie sagen: Können wir jetzt wieder schlafen gehen?
»Ich hab geträumt, nicht wahr?«, sagte Evi. »Da war gar keine Musik, stimmt’s?«
Schnuffels Schwanz wedelte von links nach rechts. Ein Ohr sank herab, das andere blieb stramm aufrecht.
Evi machte sich auf den Rückweg zur Tür und hatte das Zimmer bereits halb durchquert, als sie stehen blieb. Sie wusste ohne den leisesten Zweifel, dass jemand sie beobachtete. Langsam drehte sie sich auf der Stelle. Vorhänge zugezogen, Türen geschlossen. Sie war völlig allein. Sie hatte gerade ihr Bett erreicht, als sie direkt hinter sich die Stimme hörte.
»Evi fällt«, sagte die Stimme.
59
Sonntag, 20. Januar (vor zwei Tagen)
Am nächsten Morgen fühlte ich mich viel besser. Nach etlichen Stunden vollkommen traumlosen Schlafes schienen sämtliche Bazillen, gegen die ich angekämpft hatte, das Handtuch geworfen
Weitere Kostenlose Bücher