DEAD SHOT
er doch geworden war. Als Scharfschütze fühlte er sich von seiner Heimat England verraten, und seit Kurzem hatte er auch El Kaida den Rücken gekehrt, obwohl die Vereinigung ihn vor so vielen Jahren rekrutiert hatte. Er hatte seinen Glauben verloren! Lange hatte Saladin zugehört, als Juba seine Ergebenheit gegenüber dem Islam bekundete und von seinem Traum erzählte, sich von der übrigen Welt abzuschotten und fortan als mittelloser Bauer im Dienste des Propheten zu stehen. Doch die wahre Hingabe fehlte, und der Traum war so unrealistisch, dass er sich nie erfüllen würde.
Denn obwohl Juba ein fähiger Todesschütze und Soldat war, hielt Saladin die Motive seines Schützlings für verworren und verdorben. Nie war Juba lebendiger als im Kampf, schon die Vorfreude ließ ihn aufblühen. Er war der perfekte Mann für Scharfschützenverstecke, aber auch diese Aufträge würden nicht ewig an ihn gehen. Zwischen den Einsätzen, in der Ruhephase, hatte er das pralle Leben kennengelernt. Er war sogar dazu ermuntert worden. Von der Sünde, dem Koran zuwiderzuhandeln, hatte man ihn freigesprochen! Über Jahre residierte er in Fünfsternehotels, fuhr luxuriöse Autos, trug maßgeschneiderte Anzüge, genehmigte sich teuren Whiskey und erfreute sich einer ganzen Schar schöner Frauen in den einschlägigen Clubs: All dies gewährleistete das reibungslose Laufen dieser tödlichen Maschine, die jederzeit zum Schlag ausholen konnte. Dieser luxuriöse westliche Lebensstil, den Juba sich angeeignet hatte, kostete eine Menge Geld, und genau das war der Haken: Die Folgen dieses Lebenswandels würden die Brücke einreißen, die ihn zurück zum Islam führen sollte. Juba hatte seine Religion verloren, und wahrscheinlich alles andere auch, aber eben das wusste er nicht. Er hatte gelernt, Geld mehr zu lieben als das strenge Leben, das die Fanatiker predigten.
Saladin spielte mit und hielt Juba an der Leine – genau wie ein Schlangenbeschwörer, der sehr behutsam mit der Kobra im Korb umgehen muss. Kobras ist es gleich, wen sie beißen, und Juba tötete längst nicht mehr aus einem bestimmten Grund. Nicht einmal Rache war sein Motiv. Er tötete, weil er das Töten genoss.
Libanon
2002
Saladin erinnerte sich an die Zeit, als er sich Gedanken über die Zukunft gemacht hatte. Einst stand er schwitzend vor Saddam Hussein. Zu jener Zeit war er nur ein unbekannter Lieutenant Colonel in der irakischen Armee, zweiter Kommandeur der Unit 999, Saddams Elite-Terroreinheit. Die Gruppe hatte den Auftrag, etwas zu entwickeln, was der irakische Führer »spezielle Munition für spezielle Situationen« nannte; gemeint waren furchtbare Massenvernichtungswaffen. Insgesamt gab es neun Bataillone mit je fünfhundert Mann, die in verschiedenen Regionen und Ländern untergebracht waren und den Befehl hatten, innerhalb dieser Regionen zuzuschlagen, sobald der Irak angegriffen wurde. Der verrückte Diktator ignorierte den Konflikt, der sich nach dem Anschlag vom 11. September am Horizont abzeichnete, und lieferte sein kriegstaugliches Material aus irakischen Militärbasen nach Syrien, in den Libanon und sogar den Iran!
Saladin und sein befehlshabender Offizier waren zu einem von Saddams Palästen beordert worden, um über den Status der Mission zu berichten. Es sollte ein äußerst aggressives biochemisches Nervengas entwickelt werden, das innerhalb der Vereinigten Staaten zum Einsatz gebracht werden konnte. An diesem Projekt arbeitete man bereits seit den 1980er-Jahren und erlebte die üblichen Fortschritte und Rückschläge, die bei jedem größeren wissenschaftlichen Forschungsprogramm auftauchen. Ein Großteil der Forschung hatte man sogar in den Vereinigten Staaten betrieben, vor der Nase des FBI und manchmal mit der bereitwilligen Unterstützung der CIA. In der Zeit, als sich noch der Irak und der Iran bekämpften und Afghanistan sich gegen die Sowjets wehrte, hatten sich die Vereinigten Staaten als hilfreich erwiesen.
Saladin und sein Kommandeur standen stramm vor Saddam, der eine Zigarre rauchte und die beiden Offiziere stumm anstarrte. Neben ihm saßen Uday und Qusay, seine brutalen Söhne, und am Ende des Tischs saß Ali Hassan al-Majid, der Mann, der als Chemie-Ali bekannt war. Diese vier Männer hatten die Unit 999 ins Leben gerufen und hielten das Ziel des Projekts geheim.
Als Saddam leise fragte, ob die Waffe fertig sei, wusste Saladin, dass sein Leben von der richtigen Antwort abhing. Noch nicht ganz, erwiderte der Kommandeur des
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