Deadline 24
Gorgonen standen völlig still. Mit fast rechtwinklig abgeknickten Köpfen starrten sie in den Himmel.
»Das war knapp!«, kommentierte Monnia, als die Mädchen hoch oben weit außerhalb der Gefahrenzone verhielten, um zu verschnaufen und Karten und Kompass zurechtzulegen.
»Verdammt knapp«, bestätigte Sally.
»Ich glaub«, piepste Carlita, »noch mal können wir das nicht machen. Die wissen jetzt, dass wir keine Hybride sind, egal wie wir stinken.«
»Lieber köpf ich mich, als das noch mal zu machen«, sagte Monnia düster. »Geht’s jetzt nach Osten, Sally? Und ganz gemächlich? Bitte sag Ja. Die Nacht hat zwar erst angefangen, aber ich bin jetzt schon erschöpft. Mein Bedarf an halsbrecherischen Flügen ist ganz und gar gedeckt.«
»Gemächlich nach Osten«, bestätigte Sally.
Doch leider ließ sich das nicht verwirklichen. Je mehr sie sich den Ruinen im Zentrum der alten Stadt näherten, umso schwieriger wurde es, einen geraden Ostkurs beizubehalten. Turmhoch waren diese Gebäude, sie überragten die maximale Flughöhe der Schweber bei Weitem. Und es waren so viele, nicht zehn oder zwanzig, wie es den Mädchen aus der Ferne vorgekommen war, Hunderte mussten es sein. Es war, als flöge man durch einen toten Wald aus zerfressenen Mauern und rostigen Stahlskeletten. Sie mussten ihr Tempo noch mehr drosseln, um in der Dunkelheit nicht an einer zackigen Mauer zu zerschellen oder von einem schwertspitzen Stahlträger aufgeschlitzt zu werden. Hin und wieder hielten sie an, schauten fassungslos hinab. Sally versuchte, die in ihr aufsteigende Trostlosigkeit zu bekämpfen, indem sie sich vorstellte, wie sie den Daheimgebliebenen ihre Eindrücke später schildern würde. Doch das war schwer. Ihr fehlten die Worte. Die Begriffe, die ihr einfielen, trafen es zwar, aber sie genügten nicht: Zerstörung, Durcheinander, Chaos, endloses, grausames, einsames Chaos. Zwischen den Türmen verliefen Straßenzüge wie Schluchten voller Schutt, zerbrochenen Mauern, verbogenen Trägerstangen, Pilonen, Stahlkabeln, verkeilten Fahrzeugteilen. Wo einmal Menschen gelebt hatten, gebaut, gearbeitet, war nichts geblieben als ein riesiger düsterer, toter Haufen Schrott. Noch nie war ihr so klar gewesen, was sie verloren hatten, sie alle.
Doch zwei sehr breite Straßen waren nicht völlig verstopft von ineinander verkeilten Fahrzeug- und Gebäudeteilen, sie schienen, zumindest aus großer Höhe betrachtet, noch passierbar zu sein. In einer Nord-Süd- und einer West-Ost-Achse zerteilten sie die Stadt und trafen auf einen weiten, ebenfalls recht aufgeräumt wirkenden Platz. Sally studierte Vaters Karte. Auch er hatte, so meinte sie, diese Straßen als Linien eingezeichnet und den Platz mit dem Kreuz gekennzeichnet. Ob sie es wagen durfte, ihren Freundinnen einen kurzen Abstecher da hinunter vorzuschlagen?
Doch Monnia murrte bereits: »Vergiss es! Komm bloß nicht auf die Idee, in dieses schreckliche Labyrinth einzutauchen. Man wird ja schon krank, wenn man es aus der Luft betrachtet. Ich will weg. Lass uns abhauen!«
Carlita, die doch sonst immer zu Sally hielt, nickte heftig. Ihr Frettchengesicht wirkte verkniffen und noch kleiner als sonst.
Insgeheim musste Sally ihnen recht geben, auch ihr war gar nicht wohl, sie sehnte sich danach, weites, offenes Land unter sich zu spüren und dieses trostlose Gewirr so schnell wie möglich zu verlassen. Andererseits hatte Mutter in einer Vision den Windmann hier gesehen. »Bei den Bauten des Mittelpunkts«, hatte es in ihrem Funkspruch geheißen. Sally konnte sich nicht erinnern, wann Mutter je zuvor das Funkgerät benutzt hatte, also musste es ihr ungeheuer wichtig gewesen sein, ihrer Tochter diese Worte zu übermitteln. Darüber durfte sie sich nicht einfach hinwegsetzen.
»Der Windmann erwartet uns hier«, wandte sie sich an Carlita, da sie hoffte, bei ihr auf Verständnis zu stoßen. »Meine Mutter hat es prophezeit und ihre Visionen treffen immer ein!«
Die Kleine setzte sich auf und lauschte in die Nacht. »Kein Windmann«, sagte sie. »Ich kann nichts von ihm spüren. Dieses Mal muss sie sich geirrt haben.«
»Und wenn er noch kommt?«
»Klar doch!«, sagte Monnia böse. »Vielleicht spielt er ja Verstecken mit euch. Vielleicht hockt er hinter den Türmen und kichert sich ins Fäustchen. He, Windmann!«, rief sie laut. »Komm raus, du blödes Gespenst!«
»Still!«, befahlen Sally und Carlita gleichzeitig, erschreckt über so viel Respektlosigkeit.
»Was ist?«, fragte Monnia, nun
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