Deadlock
Thunder Bay, eine Stadt von hunderttausend Einwohnern, hat einen riesigen Hafen. Er ist Durchgangsstation für einen großen Teil aller nordamerikanischen Getreidetransporte, die auf dem Wasserweg nach Süden und Osten verschifft werden; kilometerweit reiht sich ein Getreidesilo an den anderen. Angesichts der endlosen Kette von Silos wäre es reine Zeitverschwendung gewesen, sie alle, wie ich es vorgehabt hatte, abzuklappern. Ich fuhr zurück in die Stadt und ergatterte die Lokalzeitung. Wie ich gehofft hatte, enthielt sie eine Aufstellung aller Schiffe im Hafen mit den Liegeplätzen. Die »Lucella« hatte am Kai der Manitoba-Getreidegesellschaft bei Silo 67 festgemacht.
Anscheinend waren die verschiedenen Ladekais nach keinem logischen System angeordnet, und so brauchte ich viel Zeit, bis ich die Manitoba entdeckte - ein ganzes Stück außerhalb der Stadt.
Mit Herzklopfen chauffierte ich den Ford auf das gekieste Gelände. Die Silos der Manitoba waren imponierend: Etwa zweihundert Rundbehälter standen da dicht nebeneinander. Aber die »Lucella« konnte sich neben diesen Riesen durchaus sehen lassen. Sie hatte am östlichen Ende des Kais festgemacht, und ihr roter Rumpf leuchtete in der Sonne des späten Vormittags. Eine dichte weiße Staubwolke lagerte über ihr -Getreidestaub. Die »Lucella« nahm Fracht auf.
Ich suchte mir einen Parkplatz mit möglichst wenigen Pfützen und bahnte mir dann einen Weg durch Schlamm, Metalltrümmer, Pappkartons und Getreidehäufchen. Die Szenerie war mir nun schon vertraut. Unangenehm grub sich die Smith & Wesson in meine Seite, als ich das Hauptdeck erklomm. Oben blieb ich einen Augenblick stehen, beobachtete das geschäftige Treiben und versuchte mit zusammengekniffenen Augen festzustellen, ob sich unter den mehlweißen Gestalten eines meiner Opfer befand. Ich glaubte zwar, Bledsoes untersetzte Figur zu erkennen, aber ganz sicher war ich mir nicht.
Ich ging weiter zum Ruderhaus und stieg zur mahagonigetäfelten Brücke hinauf.
Nur Keith Winstein war da, der Erste Offizier. Verblüfft sah er mich an.
»Miss Warshawski! Na so was - sind Sie mit Kapitän Bemis verabredet?« »Nein, das nicht gerade. Ist er in der Nähe? Der Chefingenieur und Martin Bledsoe auch?« Es wäre sehr ärgerlich gewesen, wenn Bledsoe nach Chicago zurückgekehrt wäre.
»Sie sind heute Vormittag alle in Thunder Bay, sie mussten zur Bank und hatten noch anderes zu erledigen. Vor dem späten Nachmittag sind sie nicht zurück, wahrscheinlich erst kurz vor dem Ablegen.«
»Sie fahren schon heute?« Ich setzte mich auf einen der Mahagonihocker. »Aus Ihrem Büro verlautete, dass Sie bis morgen Abend hier sind.« »Wir haben von Detroit hierher gute Fahrt gemacht und sind einen Tag früher als geplant angekommen. Zeit ist Geld in diesem Geschäft. Gestern um Mittemacht haben wir mit dem Beladen angefangen. Gegen vier sind wir fertig, und um fünf heißt's Leinen los.«
»Wo könnte ich Bledsoe oder Sheridan wohl finden?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Keine Ahnung. Wir haben alle unsere Konten hier in Thunder Bay, weil wir den Hafen so oft anlaufen. Da gibt's in der Stadt eine Menge zu tun. Ich nehme mir frei, sobald der Zweite Offizier zurück ist.«
Gereizt fasste ich mir an die Stirn. »Was ist Ihr nächstes Ziel?«
»Diese Ladung geht nach St. Catharines«, sagte er leicht irritiert, »auf der anderen Seite der Großen Seen. Weshalb fragen Sie?«
»Welchen Kurs nehmen Sie? Ich meine - legen Sie unterwegs irgendwo an, wo ich von Bord gehen könnte?«
Der Erste Offizier sah mich seltsam an. »Miss Warshawski, wenn Sie die Absicht haben, mit uns zu fahren, machen Sie das bitte mit dem Kapitän ab.« »Schon gut. Gehen wir ruhig davon aus, dass es klappt. Welches ist der nächste Hafen, in dem ich das Schiff verlassen könnte?«
»Wir haben keinen Schlafplatz für Sie. Mr Bledsoe hat die Luxuskabine belegt.« Ich spürte, wie mir der Geduldsfaden riss. »Ich brauche keinen Schlafplatz -deshalb möchte ich ja bei der nächsten Gelegenheit vom Schiff.«
»Vermutlich ginge das in Sault Ste. Marie«, meinte er zögernd. »Sie könnten von Bord gehen, wenn wir am unteren Teil der Schleuse angelangt sind. Aber wir werden frühestens morgen Nachmittag gegen drei dort sein. Sie benötigen also trotzdem noch eine Schlafgelegenheit.«
»Lassen Sie das meine Sorge sein«, sagte ich unwirsch. »Ich leg' mich auch hier auf die Couch, wenn's sein muss. Auf alle Fälle muss ich den Kapitän, Bledsoe und
Weitere Kostenlose Bücher