Dear Germany - Dear Germany - Life without a top sheet
habe in den letz-ten Jahren beobachtet, dass am Vorabend des Abholtermins auffällig viele Kleintransporter und Fahrzeuge mit Anhän-ger durch die Wohngebiete fahren. Sobald die Dunkelheit anbricht, geht die Jagd nach ausgemusterten Besitztümern amStraßenrand los: Menschen springen aus ihren Fahrzeugen, laden die ausgesuchten Stücke auf und sind im Nu wieder weg. Beim letzten Sperrmülltermin dauerte es keine Stunde, bis das Minitrampolin und der alte Zaun verschwunden waren.
Hat in Amerika dagegen ein Sofa sein Leben ausgehaucht oder muss ein alter Tisch weg, ruft man entweder die Heilsarmee oder eine andere wohltätige Organisation in der Hoffnung an, dort einen Abnehmer zu finden. Ein weiterer beliebter Weg, sich von alten Dingen zu trennen, sind die sogenannten Garage sales . Dafür wartet man auf ein passendes Wochenende und stellt alles, was wegmuss, mit einem Preisschild versehen in die Garage und die Einfahrt. Um sicherzugehen, dass auch Kunden kommen, setzt man eine kleine Anzeige ins Lokalblatt und malt ein paar Schilder, die auf die Verkaufsaktion hinweisen.
Damit die Müllentsorgung ordentlich abläuft, gibt es den offiziellen Abfallkalender, den jeder Haushalt jedes Jahr in der Weihnachtszeit automatisch erhält und in dem die Daten der Müllentsorgung stehen. Ich freue mich immer sehr auf die-ses Heft – wie sicherlich alle Deutschen, die pflichtbewusst ihren Müll trennen. Es garantiert einen netten Nachmittag, an dem man mit der ganzen Familie zusammensitzen und die geschätzten hundertfünfzig Entsorgungstermine im persönlichen Kalender notieren kann. Da die Termine für ein ganzes Jahr im Voraus bekannt gegeben werden, trage ich lediglich gelb , blau , grün oder grau an den jeweiligen Tagen ein und fühle mich bestens informiert, welche Tonne ich wann an die Straße stellen muss. Wer möchte, kann die jeweiligen Trennrichtlinien auch noch auswendig lernen. Dann muss man im Zweifelsfall nicht erst nach der Broschüre suchen, in der die genauen Verhaltensregeln für den Umgang mit ausgedienten Weihnachtsbäumen (»Bis spätestens 6.30 Uhr am Gehwegrand bereitstellen!«) oder die Sperrmüllauswahl (»Kein Kleinkram!«) stehen.
Sollte man trotz des Abfallkalenders aus irgendeinem Grund mit den Terminen der Müllabfuhr durcheinanderkommen, kann man sich notfalls an den Nachbarn orientieren. Stehen Mülltonnen vor den Häusern, weiß man, dass diese bald geleert werden. Oder auch nicht. Denn es kann auch passieren, dass Mülltonnen ständig auf der Straße stehen; entweder, weil der Hausbesitzer keine Lust hat, ständig eine Tonne durch die Gegend zu rollen, oder weil im Haus selbst kein Platz für vier Mülltonnen ist. Dieser Anblick ist alles andere als schön. In Amerika haben wir zwar nicht so viele Tonnen wie hier, aber dafür gibt es in vielen Gemeinden die klare Ansage: Mülltonnen gehören in die Garage und nicht auf die Straße vorm Haus.
Die Tonnen-Obsession in Deutschland kann sich unter Umständen sogar zu einem psychologischen Massenphänomen entwickeln, einer Art imperativer Gruppenzwang un-ter Mülltonnenbesitzern. Dann nämlich, wenn man das Verhalten der Nachbarn als Leitlinie für das eigene Handeln sieht.
»Honey, ich habe in meinem Kalender nichts eingetragen, aber die Nachbarn haben alle ihre gelbe Tonne rausgestellt. Habe ich einen Termin übersehen?«
»Hm. Stell unsere Tonne einfach auch raus. Wir werden dann ja sehen, ob der Müll abgeholt wird.«
Jeder fürchtet nämlich, eine Leerung zu versäumen.
Einer Nachbarin von mir ist genau das passiert: Sie verpasste einmal den Abholtermin für die gelbe Tonne, weil sie ein paar Tage weg war. Da die Leerung nur einmal im Monat erfolgt, musste ihre fünfköpfige Familie anschließend den Verpackungsmüll mit dem Grünen Punkt zwei Monate lang sammeln. Das ist im Hochsommer nicht unbedingt ein Vergnügen – Stichwort Geruchsbelästigung (vor allem dann, wenn man nicht wie jeder gute Recycler die Joghurtbecher und Ravioli-Dosen ausgewaschen hat).
In solchen Fällen hält die Recycler-Gemeinde natürlich zusammen! Glücklicherweise war in unserer gelben Tonne noch Platz, sodass meine Nachbarin ihre zu unserem Haus rüberrollte und wir einen Teil des Inhalts umpackten. Es muss ein interessantes Bild gewesen sein: zwei Frauen, die in einer Auffahrt Müll umladen. In Amerika würde so etwas sicherlich nie passieren!
Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die Müllabfuhr nirgendwo so sehnlich erwartet wird wie in Deutschland.
Weitere Kostenlose Bücher