Dear Germany - Dear Germany - Life without a top sheet
Ordnung und Regelungsfreude gilt, setztfast ein Jurastudium voraus, wenn es um die simple Frage geht: Wo darf man eigentlich rauchen und wo nicht?
Als Grundvoraussetzung für die Beantwortung dieser Frage sollte man immer einen aktualisierten Gesetzestext und eine Landkarte dabeihaben. Denn wer beispielsweise die Brücke zwischen Ulm und Neu-Ulm überquert, kann in wenigen Minuten gleich zwei Nichtraucherschutzgesetze erleben.
Es gäbe sicherlich noch viel mehr über die Auswirkungen von Zigarettenqualm auf mein empfindliches Gemüt zu erzählen. Doch jetzt wende ich mich lieber wieder den guten Seiten Deutschlands zu, zum Beispiel dem Oktoberfest und dem rheinischen Karneval.
16 KOSTÜME UND KAMELLE
Menschen, die noch nie in Deutschland gelebt haben, könnten den Eindruck gewinnen, das Oktoberfest sei hierzulande das größte Ereignis des Jahres. Schließlich ist es das größte Volksfest der Welt. Viele Deutsche aus der gesamten Republik strömen nach Bayern und besuchen die Wiesn , um literweise Bier in sich hineinzukippen. Auch aus dem Ausland reisen Millionen Gäste extra für dieses Spektakel an. Manche schaffen es sogar in die Nachrichten. Ich habe im Fernsehen – was sehr peinlich war – Landsleute von mir gesehen, die etwas in die Kamera lallten, das sich anhörte wie ein mir unbekannter deutscher Dialekt. Auch wenn sie nicht imstande waren, ein Bier auf Deutsch zu bestellen, hinderte sie das nicht am Trinken.
Erstaunlicherweise ist ausgerechnet dieses Gelage das Ereignis, über das mich viele Amerikaner, die ich kenne, ausfragen, und allen muss ich sagen: »Sorry, ich war nie dort.«
Dabei bekam ich schon öfters Einladungen, in einem der Zelte mit für mich schon in nüchternem Zustand unaussprechlichen Namen wie Hacker-Festzelt, Armbrustschützenzelt oder Winzerer Fähnd’l mitzufeiern. Warum ich nie hingegangen bin, weiß ich selbst nicht so genau. Hatte ich vielleicht Angst, im Dirndl keine gute Figur zu machen? Oder fehlte mir die Kraft im rechten Arm fürs Stemmen der Ein-Liter-Maßkrüge? Vielleicht bin ich aber auch einfach nur, wie wir zu Hause sagen, ein Party-Pooper , also ein Partymuffel. Wie auch immer, ich war nie da.
Doch auch im Fernsehen kann ich zur Oktoberfestzeit Mädchen und Frauen in diesen lustigen, offenherzigen Dirndln bestaunen. Welche Vorteile der Anblick all der Männer, die ihre haarigen Beine in nicht ganz so attraktiven Lederhosen präsentieren, bietet, habe ich bisher noch nicht herausfinden können.
Im Rheinland, wo ich lebe, sind Männer während der Karnevalszeit – zumindest was die Beintracht angeht – nicht unbedingt erotischer. Denn dann stecken einige Herren ihre behaarten und mehr oder weniger muskulösen Beine in Strumpfhosen. Meiner Meinung nach ist das sehr merkwürdig, und ich finde es mutig, so herumzulaufen. Selbst an unserem verrücktesten Kostümfest Halloween würde in Amerika kein Mann in Strumpf- oder Lederhosen auf die Straße gehen. Da soll einer sagen, die Deutschen hätten keinen Humor!
An Karneval herrscht im gesamten Rheinland Ausnahmezustand. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das wirklich verstanden habe. Nie vergessen werde ich, wie ich mein erstes Karnevalswochenende in Deutschland verbracht habe – alleine. Mein Mann hatte mir einige Wochen zuvor gesagt, dass es an diesem Wochenende in Köln etwas ausgelassen zugehen werde: »Sie nennen das hier Karneval.« Er allerdings konnte leider nicht bei mir sein, denn er musste genau zu dieser Zeit mit einer Gruppe von Journalistinnen für RTL auf eine PR-Tour nach Chicago. Es war eine Geschäftsreise mit ernsthaftem Hintergrund, aber mir war ein bisschen bange, ausgerechnet an diesem Wochenende allein in Köln zu sein.
Um wenigstens eine Ahnung zu bekommen, was es mit diesem rheinischen Brauchtum auf sich hat, machte ich mich auf die Suche nach dem Karneval. Was nicht lange dauerte, denn wir wohnten in der Innenstadt, und kaum war ich aus der Tür, liefen mir auch schon die ersten verkleideten Figuren über den Weg.
In der Bäckerei erlebte ich die erste Überraschung. Die Verkäuferinnen hinter der Theke trugen plötzlich rote, blaue oder lilafarbene Perücken sowie lustige Kostüme, und ihre Gesichter waren bemalt. Im Supermarkt, wo ich erwartete, normale Zustände vorzufinden – voilà, dasselbe Bild. Als Nächstes ging ich in eine Bank, in der Annahme, dass es dort seriös zuginge, aber sogar die Bankangestellten waren närrisch geworden. Auf den Straßen sah ich überall
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