Deathbook (German Edition)
Haus.
«Alles klar», riefen sie.
Kieling ging voran, Manuela folgte. Mit den Händen in den Taschen blieb sie auf dem Flur stehen. Sie fühlte sich unwohl, fehl am Platz und wäre am liebsten verschwunden.
Kieling drehte sich zu ihr um.
«Was ist, Skrupel? Das ist unangebracht, Frau Sperling. Dafür, dass Sie kurz vor dem Abschluss stehen, müssen Sie noch eine Menge lernen, scheint mir. Na los, jeder einen Raum. Gehen Sie da rechts hinein.»
Damit schickte er sie in das Arbeitszimmer. Er selbst verschwand im Wohnzimmer, die vier Kollegen verteilten sich auf die anderen Räume. Kurz darauf hörte Manuela geschäftiges Treiben. Schubladen wurden aufgerissen und durchwühlt, Schränke geöffnet, Möbel verrückt. Jeder Beamte mit ein bisschen Erfahrung wusste, wo Menschen Dinge versteckten, die niemand finden sollte. Hinter Bücherreihen, unter Schreibtischplatten geklebt, zwischen der Wäsche, auf Schränken – was das anging, tickten alle gleich.
Manuela sah sich im Arbeitszimmer um. Das große Fenster ging zum Wald hinaus. Die komplette rechte Wandseite war von einem deckenhohen Regal eingenommen. Es bog sich unter der Last Hunderter Bücher, vielleicht waren es sogar mehr als tausend. Hatte er die wirklich alle gelesen? Manuela konnte erkennen, dass Andreas anfangs wohl versucht hatte, eine gewisse Ordnung einzuhalten, es irgendwann aber aufgegeben hatte. Über horizontal sortierten Reihen wuchsen vertikale Türme in die Höhe. Auf dem Holzboden vor dem Regal sammelte sich, was im Regal kein Platz mehr fand.
An der linken Wandseite standen hüfthohe Regale, die zum Teil mit Ordnern gefüllt waren. Die Aufschriften auf den Rücken wiesen auf trivialen Inhalt wie Versicherungen, Steuer, Verlag, Agentur und Rechnungen hin.
Spannender waren dagegen die mit grauem Filz überzogenen Kartons in einem weiteren Regal. Davon gab es zehn Stück. An der Vorderseite war eine kleine Halterung aus Metall angebracht, in der Pappschildchen mit Aufschriften steckten.
Manuela musste sich nah heran bücken, um die handschriftlichen Buchstaben entziffern zu können.
Der Gesang des Scherenschleifers. Tief im Wald und unter der Erde. Hänschen klein. Blinder Instinkt. Bleicher Tod. Höllental. Wassermanns Zorn.
Diese Titel kannte Manuela. Das waren die sieben Bücher von ihm, die es auf dem Markt gab. Die anderen Titel kannte sie nicht.
Blutiger Schnee. Großvaters Haut. Das Rudel.
Noch unveröffentlichte Geschichten? Waren sie noch in Arbeit oder bereits fertig?
Manuela öffnete einen Deckel und wagte einen Blick hinein. Darin lag ein Manuskript. Ein Stapel bedrucktes Papier. Nur zu gern hätte sie ein paar Seiten gelesen, aber dafür war sie nicht hier. Sie legte den Deckel wieder auf, schob den Karton zurück und wandte sich um.
Vor dem Bücherregal stand der Schreibtisch. Ein ganz normaler Schreibtisch, wie man ihn in jedem Büro finden konnte. Nichts Besonderes. Er wirkte sogar ein bisschen schäbig und abgestoßen. Der große Computer darauf war sicher teuer gewesen, ansonsten war die Ausstattung aber eher schlicht und alt. Der Arbeitsplatz war so ausgerichtet, dass Andreas beim Schreiben sowohl die Tür als auch das Fenster sehen konnte. Da hatte wohl jemand Angst, wenn er bestimmte Szenen schrieb, vermutete Manuela.
Sie ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf den bequemen Drehstuhl. Die Polsterung fühlte sich an, als könne man Stunden darauf verbringen.
Sie sah sich um.
Der Rechner war natürlich aus, aber den würde Kieling ohnehin mitnehmen.
Die Tastatur lag auf einer großen Unterlage aus Papier. Darauf waren allerlei Kritzeleien zu sehen. Bleistiftzeichnungen geometrischer Figuren, Linien, die sich überkreuzten, miteinander verschlungen waren und ein Netz ergaben, aus dem es kein Entrinnen gab. Manuela stellte sich vor, wie Andreas hier saß, nachts, ganz allein, grübelnd, auf der Suche nach einer Idee, und wie er dabei mit dem Bleistift auf Papier kritzelte. Vielleicht half ihm das kratzende Geräusch, dass die Graphitmine verursachte, beim Denken.
Rechts stand eine benutzte Tasse. Die angetrockneten Reste zeugten von dem Kaffee, der darin gewesen war. Neben dem Bildschirm ein Stapel Bücher: Nachschlagewerke. Vier verschiedene Duden. Ein Ratgeber für kreatives Schreiben sowie eine Abhandlung darüber, wie man Menschen las. Das war interessant. Manuela nahm das Buch in die Hand. Es war von einem ehemaligen FBI -Mitarbeiter geschrieben. Schnell ließ sie die Seiten über den Daumen
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