Deathbook (German Edition)
entkommen. Ich hörte ihn laut keuchen, er war am Ende. Für einen Moment musste ich mich auf den Untergrund konzentrieren, vor mir lag ein Gewirr umgestürzter dünner Fichtenstämme. Ich überwand es, und als ich wieder aufsah, war der Typ verschwunden.
Ich lief bis zu der Stelle weiter, an der ich ihn zuletzt gesehen hatte. Weit konnte er ja nicht gekommen sein, wahrscheinlich war er nur irgendwo abgebogen und versteckte sich.
Der Schlag kam aus heiterem Himmel. Schmerz explodierte in meinem Kopf, ich ging zu Boden, mir wurde schwarz vor Augen, und ich hatte das Gefühl, in einen tiefen Abgrund zu stürzen. Ich sah nichts mehr, spürte ein scharfes Brennen an Lippen und Nase, presste meine Hände dagegen, glaubte, warmes Blut zu spüren, und schmeckte es einen Moment später schon im Mund.
Du bist schutzlos, schoss es mir durch den Kopf.
Ich hatte Kathis Mörder durch den Wald gehetzt und lag jetzt hilflos vor ihm. Ich rechnete mit einem weiteren Schlag, gegen den ich nichts hätte tun können, aber er kam nicht. Die Dunkelheit verschwand, und ich konnte wieder sehen, wenn zunächst auch nur verschwommen. Ich blieb noch einen Moment sitzen, bis ich das Gefühl hatte, aufstehen zu können, ohne gleich wieder umzukippen. Dann zog ich mich am nächsten Baumstamm hoch und sah mich um.
Ich war allein.
Aus meiner Nase und einer Wunde an der Oberlippe tropfte Blut zu Boden. Zwei Schritte vor mir lag der Ast, den der Typ mir ins Gesicht gedroschen hatte. Ich war ihm wie der letzte Depp in die Falle gegangen.
Ein Motor brummte.
Er wollte abhauen.
Unmittelbar hinter der Stelle, an der ich niedergeschlagen worden war, begann ein geschotterter Waldweg. Der Schmerz in meinem Gesicht und das leichte Taubheitsgefühl in meinem Kopf hinderten mich nicht daran, die Verfolgung wiederaufzunehmen. Dieser Mistkerl durfte auf keinen Fall entkommen.
Durch die Baumstämme hindurch sah ich den weißen Wagen. Er wendete umständlich und gab immer wieder Vollgas, so als hätte er sich festgefahren. Der Motor röhrte laut.
Ich folgte dem Schotterweg, schnitt eine Kurve ab, indem ich durchs Unterholz sprang, und erreichte die Stelle, an der der Typ geparkt hatte. Vor meiner Nase preschte er davon. Meine Sicht war noch immer nicht ganz wiederhergestellt, aber ich glaubte, das Kennzeichen entziffern zu können, und merkte es mir.
Dann ging ich auf die Knie und spuckte Blut.
H errgottnochmal, sie ist zwanzig Jahre alt. Sie muss lernen, allein klarzukommen.»
«Sie hat gerade ihre Mutter verloren.»
«Andere müssen auch damit klarkommen. Deine Schwester ist doch schuld daran, dass Ann-Christin so geworden ist. Die beiden haben sich in den letzten Jahren nur noch in diesem Haus versteckt aus Angst vor Lutz. Das ist doch nicht normal.»
«Nicht so laut, sonst hört sie dich noch.»
Die Warnung kam zu spät, Ann-Christin hatte die Unterhaltung zwischen ihrer Tante Verena, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, und deren drittem Mann Gustav längst gehört. Sie saß im Nebenraum, und die Wände in diesem Haus waren dünn. Zudem war Gustav kein Freund leiser Worte.
Ann-Christin lag mit offenen Augen auf dem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Eine kleine Lampe auf dem Nachtschrank spendete Licht. Doch deren Schein drang nicht in ihre Seele. Darin lag eine undurchdringliche Dunkelheit, die sämtliche Körperfunktionen und Empfindungen außer Kraft setzte. Das war nicht mehr ihr Körper, sondern nur irgendein Klotz, den sie mühsam mit sich herumschleppte.
Tante Verena kümmerte sich um die Beerdigung ihrer Schwester. Sie waren hier, um Mamas Unterlagen zu sichten. Gustav war auf der Suche nach einer Sterbegeld- oder Unfallversicherung, aber gefunden hatte er noch nichts, und er wurde immer wütender. Ann-Christin mochte ihn nicht, deshalb hatte sie den Mann noch nie mit Onkel angesprochen. Seinetwegen hatte Mama in den letzten Jahren kaum noch Kontakt zu ihrer einzigen Schwester gehabt. Auch heute regte er sich die ganze Zeit nur auf. Leider hatte er in manchen Dingen sogar recht.
Ja, sie und Mama lebten seit fünf Jahren in einem Gefängnis der Angst, das sie selbst erbaut hatten. Es gab sie beide, und es gab die Welt da draußen. Eine Welt, in der ihr Papa lebte und aus der heraus er sie seit der Scheidung immer wieder bedrohte. Und ja, Ann-Christin war unselbständig und verschlossen, hatte keine Freunde, außer neuerdings ein paar wenigen in den sozialen Netzwerken, aber die zählten nicht. All das hatte Gustav in den
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