Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
vernichtenden Blick ein. »Natürlich habe ich. Und mich auch bedankt. Ich bin doch nicht von gestern.«
Kincaid schloß einen Moment die Augen und holte tief Luft.
»Okay, können wir dann fahren? Je schneller wir am Bahnhof sind, desto schneller bist du ... wieder in Cambridge.« Er hätte fast »zu Hause« gesagt. Aber seit dem Tod seiner Mutter im April hatte Kit kein richtiges Zuhause mehr.
Kit stand auf, das Gesicht abgewandt, und trottete betont langsam zum Wagen. Nachdem Kincaid die Reisetasche des Jungen im Kofferraum des Rovers verstaut hatte, setzte er sich zu ihm. Nach kurzem Zögern steckte er den Schlüssel ins Zündschloß. »Wir fahren zum Bahnhof King’s Cross. Wenn wir vor Abfahrt des Zuges noch Zeit haben, gehen wir was essen. So spät kommst du nicht zurück.«
»Ist jetzt sowieso egal. Ich habe Tess’ Stunden auf dem Ab-richteplatz schon verpaßt«, sagte Kit hölzern, den Blick unverwandt geradeaus durch die Windschutzscheibe gerichtet.
»Du hast mir nicht gesagt, daß du mit Tess trainierst.«
»Hatte kaum Gelegenheit dazu, oder? Habe dich das ganze Wochenende doch kaum gesehen.«
»Kit. Ich habe gesagt, daß es mir sehr leid tut. Aber manchmal passieren Dinge ...«
Kit wirbelte zu ihm herum. »Du kommst immer zu spät!« zischte er. Rote Flecken zeichneten sich auf seinen Wangenknochen ab, und er rieb sich mit der Faust über seine bebende Unterlippe. »Du sagst, daß du was tun willst, und dann hältst du nicht Wort. Du bist genau wie mein Dad.«
Kincaid hielt das Steuerrad fest umklammert. »Gib mir eine Chance, okay, Kit? Das ist alles neu für mich. Ist schon schwierig genug für mich, meinen Job in Einklang mit ...«
»Dann laß es lieber.« Kit wandte sich ab, die Lippen fest aufeinandergepreßt, das Kinn trotzig nach vorn gereckt. »Ist doch immer derselbe alte Mist, oder? Mein Dad ...«
»Ich liebe meinen Beruf, Kit, aber das heißt nicht, daß du mir nichts bedeutest. Bei mir kannst du sicher sein, daß ich nicht das Interesse verliere und mich einfach aus dem Staub mache.«
»Dad hat es getan. Er ...«
»Verdammt noch mal, Kit, wir reden nicht von Ian. Wir reden von mir. Und ich bin dein Dad.« Kincaid hörte seine Worte voller Entsetzen, aber es war zu spät, sie zurückzunehmen.
Kit starrte ihn an. »Das ist Quatsch. Wovon redest du überhaupt?«
Verdammte Scheiße, dachte Kincaid. Was hatte er gemacht? Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte es dir nie auf diese Weise sagen. Aber ich bin sicher, daß ich dein Vater bin. Ich dachte ...«
»Das ist idiotisch. Mein Dad ist in Frankreich.«
»Sieh mich an, Kit.« Kincaid griff nach Kits Schulter, aber der Junge zuckte vor ihm zurück. »Schau dir mein Gesicht an, und dann sieh in den Spiegel.« Kincaid klappte die Sonnenblende vor dem Beifahrersitz herunter. »Du bist mein Ebenbild, als ich so alt war wie du. Meine Mutter hat es sofort gesehen. Und ich sehe es jedesmal, wenn ich dich anschaue.«
»Ich glaub dir nicht«, murmelte Kit, warf jedoch einen flüchtigen Blick in den Spiegel.
Kincaid zog seine Brieftasche aus der Tasche und zog zwei alte Fotos heraus. »Meine Mutter hat mir das geschickt. Da bin ich elf gewesen.« Er reichte es Kit, der es widerwillig entgegennahm. Dann hielt er das zweite Bild hoch. »Das hier habe ich aus dem Arbeitszimmer deiner Mutter mitgenommen.« Es zeigte Vic und Kit, die Arm in Arm im Garten des Häuschens in Grantchester standen und in die Kamera lachten. »Du siehst die Ähnlichkeit auch, oder?«
»Nein.« Kit schüttelte den Kopf und warf die Fotos ins Handschuhfach. »Ich glaub das nicht. Meine Mutter hätte nie ...« Sein Blick huschte erneut zum Foto.
»Das bedeutet nicht, daß deine Mutter was Falsches getan hat, Kit. Du weißt, daß wir verheiratet waren, bevor sie Ian geheiratet hat. Sie muß mit dir schwanger gewesen sein, als wir uns getrennt haben.«
»Sie hätte es mir gesagt. Mum hat mir alles gesagt.«
»Versteh doch! Das konnte sie nicht. Sie war damals mit Ian zusammen, und sie wollte, daß du ihn für deinen Vater hältst.« Und dann hatte Ian die beiden verlassen. Nach Ians Verrat hatte Vic Kincaid ... in ihr und Kits Leben zurückgeholt. Was sie damit beabsichtigt hatte, würden sie allerdings nie erfahren.
Kit knetete seine Knie mit den Fingern und vermied es, Kincaid anzusehen.
»Ich hatte keine Ahnung von deiner Existenz ... bis zu jenem Tag, als ich nach
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