Decker & Lazarus 05 - Du sollst nicht luegen
Schwarzweißaufnahme von Kelley Ness. Die Haare sehr kurz, so daß ihre Ohrhänger gut zur Geltung kamen. Schwer zu sagen, ob sie Make-up trug. Auffallend war jedoch, daß sie nicht lächelte. Das Mädchen wirkte regelrecht grimmig. Wie Denise schon sagte, es war offenbar ein schweres Jahr für Kelley gewesen.
Dann suchte er nach einem Foto von Denise. Es war leicht zu finden, darunter stand nämlich: Alles Liebe. Denise Dillon. Niedliches kleines Ding. Kurzes lockiges Haar und lange baumelnde Ohrringe. Decker blätterte zurück zu dem Foto von Kelley. Die gleichen Ohrringe. Er betrachtete Denise noch einmal. Sie lächelte – ein offenes, strahlendes Lächeln.
Decker zeigte Marge die Fotos. »Guck mal, sie tragen die gleichen Ohrringe.«
»Ich sag dir, das ist es, was Davida gegen Kelley in der Hand hat«, sagte Marge. »Deshalb war Kelley bereit, für sie die Leiche zu beseitigen. Und deshalb weigert sich Kelley, Davida in die Sache hineinzuziehen. Sie will nicht, daß rauskommt, daß sie eine Lesbe war! Pete, wir können Kelley benutzen, um an Davida ranzukommen!«
Decker klappte das Buch zu und trommelte mit den Fingern darauf herum. »Weißt du, was mich irritiert? Daß Kelley die schmutzige Arbeit für Davida erledigt hat, wo Mike auch da war. Marge, er hat ein ausgeprägtes Bedürfnis, seine Schwester zu beschützen. Ich hab den Eindruck, daß er wie ein Habicht über sie wacht. Ich glaube nicht, daß er Kelley erlaubt hätte, für Davida eine Leiche zu beseitigen, wenn er es selbst hätte tun können.«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Ich drücke mich wohl nicht ganz klar aus.« Decker hielt einen Moment inne. »Mal angenommen, Davida hat was gegen Kelley in der Hand.«
»Daß sie eine Lesbe war.«
»Wie dem auch sei. Mal angenommen, Davida hat Kelley erzählt, sie wisse über ihre schmutzigen Geheimnisse Bescheid. Was würde Kelley als erstes tun? Es ihrem Bruder sagen, richtig?«
»Yeah, vielleicht.«
»Nicht vielleicht. Hundertprozentig! Nun ist Ness zwar ein kleiner Gauner, aber denk doch nur mal, wie er reagiert hat, als er erfahren hat, daß Eubie es mit seiner Schwester treibt. Er hat sich auf Eubie gestürzt. Ich kann mir Ness als kleinen weißen Ritter vorstellen, wie er auf Davida zugeht und sagt: ›Wenn du deinen Dreck erledigt haben willst, Lady, geh nicht zu meiner Schwester, komm zu mir …«‹ Decker fuchtelte mit einem Finger in der Luft herum. »Warte mal, mir fällt gerade was ein. Ich versuche, den genauen Wortlaut zusammenzukriegen. Ich glaube, es war: ›Du hast meine Schwester in die Sache mit reingezogen, du Wichser!«‹
»Wer hat das gesagt?«
»Mike Ness zu Eubie Jeffers. Du hast meine Schwester in die Sache mit reingezogen, du Wichser! Das würde bedeuten, daß Eubie Kelley dazu gebracht hat, die schmutzige Arbeit zu erledigen. Aber wie Kelley es darstellt, hat sie Eubie in die Sache hineingezogen. Hier haben wir einen netten kleinen Widerspruch.«
Es wurde still im Zimmer. Decker stand auf und steckte die Hände in die Taschen.
»Betrachten wir’s mal folgendermaßen, Margie. Mike brüllt Eubie an: Du hast meine Schwester in die Sache mit reingezogen. Darauf sagt Eubie so was wie: Ich hätte es allein nicht geschafft, Mike. Das bedeutet, daß Mike Eubie um Hilfe gebeten hat. Darauf hat Eubie Kelley gebeten, ihm zu helfen.«
»Warum sollte Eubie Mike helfen wollen?«
Decker dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Ganz einfach, weil Mike Eubie für die Nacht, in der Lilah vermeintlich vergewaltigt wurde, ein Alibi verschafft hat. Ich sehe Ness als Mittelsmann zwischen Davida und Eubie. Wer weiß? Ness könnte den Tatort bereits erkundet haben, bevor er Eubie rübergeschickt hat. Vielleicht hat Ness sogar die Waffen beseitigt. Den ekligen Teil – die Beseitigung der Leiche – hat er dann Eubie überlassen.« Er hielt inne. »Aber warum hat Kelley dann darauf bestanden, sie stünde hinter der ganzen Geschichte, und damit den Kopf für Mike hingehalten?«
»Nun ja, sie könnte Mike schützen wollen«, sagte Marge. »Das steht natürlich im Widerspruch zu deiner Theorie von Mike als fürsorglichem älterem Bruder.«
»Dann lautet die Frage also: Warum hat Mike seiner Schwester erlaubt, für ihn den Kopf hinzuhalten?« sagte Decker.
»Mir scheint, wenn Mike zugelassen hat, daß seine Schwester den Kopf für ihn hinhält, dann muß sie ihn wegen einer großen Sache schützen. Und da finde ich dieses Jahrbuch unter einem Dielenbrett …« Sie zögerte.
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