Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
Jerusalem. Wir sind sogar einmal zum Sabbat bei ihm zu Hause gewesen. Und ich weiß noch, am Nachmittag sind wir in die Altstadt gegangen, und dann haben wir uns den Sonnenuntergang angesehen und wie die Steine in der Mauer tiefgolden leuchteten.«
Nach kurzem Zögern sagte Decker: »Wer ist wir?«
Rina wurde plötzlich rot. Außer Hannahs Gebrabbel herrschte Stille im Raum. Decker nahm die Hand seiner Frau. »Diese Reise jetzt, Rina. Ist es das erste Mal, daß du wieder hinfährst, seit Yitzchak gestorben ist?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ihre Stimme klang weich. »Ich bin seitdem schon einmal dort gewesen. Kurz bevor ich nach Los Angeles zurückgekehrt bin, bevor ich zu dir zurückkam … habe ich mit meinen Eltern einen Kurztrip dorthin gemacht. Um auf den Friedhof zu gehen.«
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Ich dachte, es würde dich kränken.« Sie sah ihrem Mann forschend in die Augen. »Hatte ich darin recht?«
Decker atmete aus. »Ja, ehrlich gesagt … es hätte mich gekränkt – damals. Aber jetzt würde es das nicht mehr. Wenn du möchtest, können wir gemeinsam zu seinem Grab gehen. Das ist das mindeste, was ich für dich tun kann … und für die wunderbaren Söhne, die er hervorgebracht hat.«
»Er liegt in Bnei Brak begraben. Das ist gleich außerhalb von Tel Aviv. Bist du sicher, daß du damit zurechtkommst?«
»Wird schon gehen. Ich hoffe, die Jungen …« Er schmunzelte in sich hinein. »Was für eine Rasselbande. Willst du es ihnen sagen, oder soll ich es tun?«
»Das mache ich schon. Du hast im Moment sicher noch genug anderes zu bedenken.« Rina stand auf. »Pack deinen Koffer zu Ende und paß ein bißchen auf Hannah auf. Ich suche solange unsere Pässe.«
»Hast du für Hannah etwas organisiert?«
»Ja. Ich dachte ja, ich würde nach New York fliegen. War schon alles abgesprochen. Nora, die Säuglingsschwester, hat sich bereit erklärt –«
»Ich mag Nora. Hast du sie wieder eingestellt?«
»Für drei Tage. Aber ich glaube nicht, daß sie etwas dagegen hat, eine Woche zu bleiben. Meine Eltern waren auch einverstanden, solange bei uns einzuziehen und sich um die Jungen zu kümmern.«
Decker nahm Hannah hoch auf die Arme und warf sie in die Luft. Die Kleine kreischte vor Vergnügen. Er drückte sie an die Brust und nickte seiner Frau zu. »Danke, Rina.«
»Gern geschehen, Schatz. Und übrigens, die Krawatten passen hervorragend zu den Anzügen.«
ZWEITER TEIL
Israel
25
Nach sechsundzwanzig Stunden Flug wurden sie von einem vielköpfigen Empfangskomitee begrüßt. Nur leider war niemand aus der Menge ihretwegen da. Decker war erstaunt, wie viele Menschen sich auf dem bißchen Platz vor dem Gebäude drängten und es ihm fast unmöglich machten, mit seinem Gepäckwagen voranzukommen. Er wußte, daß »Ben Gurion« in Lod ein internationaler Flughafen war, aber auf ihn wirkte er eher wie eine Behelfslösung, nicht viel mehr als eine Landebahn. Jemand fuhr mit voller Wucht in seinen Karren, so daß er fast umkippte. Aber Decker reagierte prompt und verhinderte das Schlimmste. Die Frau half ihm, den Karren wieder aufzurichten, soviel mußte man ihr lassen, aber dann verschwand sie ohne ein Wort der Erklärung.
»Entschuldigen Sie bitte!« murmelte Decker in seinen Bart.
Rina lächelte. »Erinnert mich an den Standardwitz.«
»Und der wäre?«
»Zu lang. Den erzähl ich dir, wenn wir nicht so müde sind. Laß uns einfach nur sagen, daß wir uns in einem levantinischen Land befinden. Daran mußt du immer denken. Es wird dir eine Menge helfen.«
Der Schlafentzug und Kopfschmerzen von olympischem Ausmaß hatten Decker reizbar gemacht. Und wackelig auf den Beinen war er auch, nachdem er mehr als einen Tag lang eingepfercht in einem voll besetzten Flugzeug gesessen hatte. Massenweise Familien mit Heerscharen von brüllenden Babies. Obendrein war eine jüdisch-argentinische Teenagergruppe mit altersschwachen und verstimmten Gitarren mitgeflogen, die noch nie etwas davon gehört hatten, daß Rundgesänge ungefähr ebenso lange out waren wie Nehru-Jacken und perlenbestickte Stirnbänder. Die Musik nahm kein Ende. Als es ihm endlich doch gelungen war, in einen unruhigen, schwitzigen Schlaf zu fallen, weckte ihn ein unbekannter Chassid, um zu fragen, ob er sich wohl freundlicherweise zum Abendgebet, zu einer Minchess, finden wolle – einem Quorum von mindestens zehn Männern, die nötig sind, um öffentlich zu beten. Er mußte all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um den
Weitere Kostenlose Bücher