Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
kannst doch keinen Löwen streicheln, Pessy«, belehrte Minda ihren kleinen Bruder. »Außerdem sind sie in Käfigen.«
»Woher kennst du dich im Zoo aus?« fragte Mendel.
»Wir sind mal in den in Brooklyn gegangen. Wir hatten ein Picknick dabei und haben den Tag im Park verbracht. Weißt du noch, Mama?«
Honey nickte. »Erinnerst du dich, Bryna? Du warst ungefähr zwei Jahre alt.«
Das jüngere Mädchen schüttelte den Kopf.
Honey lächelte. »War das nicht schön, Minda?«
»Eigentlich haben mir die Tiere leid getan«, sagte Minda. »So eingesperrt in ihren Käfigen.«
»Die Tiere hier sind nicht in Käfigen«, warf Rina ein.
Bryna sah aus wie versteinert.
»Sie sind in Umzäunungen«, ergänzte Rina schnell. »Sie können nicht raus und herumlaufen. Aber sie leben in weiträumigen, offenen Bereichen, die dem natürlichen Habitat der Tiere möglichst ähneln sollen.«
Wieder wurde es still im Auto. Bryna flüsterte ihrer Mutter etwas ins Ohr.
Honey lächelte. »Wie würdest du Habitat übersetzen?«
»Der natürliche Lebensraum der Tiere«, sagte Rina. »Es ist ein schöner Park. Den muß man gesehen haben.«
»Und die Löwen können nicht heraus?« fragte Bryna.
»Nein.«
»Was passiert, wenn sie doch mal rauskommen?«
»Das passiert einfach nicht, Bryna.«
»Und wenn doch?«
»Dann holen sie ein Gewehr und erschießen sie, Bryna«, sagte Minda. »Und wenn du dich nicht benimmst, erschießen sie dich gleich mit.«
»Minda!« Honey war entgeistert. »Deine Schwester redet Unsinn, Bryna. Hör nicht auf sie.«
»Ich sehe mir die Löwen an«, sagte Pessy tapfer.
Honey tätschelte seine Kippa. »Ist er nicht ein Schatz, Rina?«
»Ja.«
»Wo wir gerade von Schätzen reden. Du hast einen ganz besonders süßen da vorn.«
»Ich liebe sie.«
»Wie heißt sie?«
»Channah«, sagte Rina und benutzte den hebräischen Namen.
»Hallo, Channelah«, gurrte Honey. »Du mußt soviel Freude an ihr haben.«
»Sehr viel.«
»Und dein Mann?«
»Er ist im siebten Himmel.«
»War er nicht böse, weil es kein Junge war?«
»Nein, kein bißchen.«
»Das ist schön. Manche Männer sind da wirklich komisch.«
Rina antwortete nicht.
»Jedes Kind ist ein Geschenk von Haschem«, stellte Honey fest.
»Ganz genau.«
Honey kratzte sich an der Perücke. »Mädchen, Junge. Wen interessiert das schon?«
»Mich bestimmt nicht.«
»Natürlich lernen Ehemänner immer gern mit ihren Söhnen. Gershon hat sich sehr gefreut, als Pessy geboren wurde. Er hat ständig davon geredet, daß er jetzt ein Mezuman hätte.«
Rina antwortete nicht. Mezuman – ein Dreierkollegium – war nötig, um einen bestimmten Segen vor Birkat HaMazon zu sprechen, dem Dankgebet nach dem Essen. Wenn die Jungen älter wurden, konnte Gershon jetzt den zusätzlichen Segen jedesmal sprechen, wenn er etwas aß.
Zu Mendel sagte Rina: »Dein Vater muß viel Freude daran haben, mit dir zu lernen.«
Mendel schwieg, doch sein Gesichtsausdruck signalisierte deutlich, das ginge sie nichts an. Honey hatte nichts gemerkt, weil sie die Landschaft bewunderte. Ihre starr aus dem Fenster gerichteten Augen weiteten sich, als der Wagen an einem Gewerbegebiet mit Fußgängerbrücken und Parkplätzen vorbeifuhr, die mit Palmen gesäumt waren. Sie nahm die Hände ihrer kleineren Kinder. »Seht mal, Kinder, das sind Palmen! Sind sie nicht einfach wunderbar majestätisch? Da fühlt man sich doch fast so, als wäre man im tropischen Regenwald.«
Rina betrachtete das Gewerbegebiet unter diesem neuen Aspekt. Es brauchte viel Phantasie, um sich das als tropischen Regenwald vorzustellen, aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Die Kinder schwiegen ebenfalls, die Begeisterung ihrer Mutter verwirrte sie.
Honey gluckste. »Ich vergesse es immer wieder. Sie sind ja nicht mit Fernsehen und all diesen lustigen Bilderbüchern aufgewachsen. Sie haben keine Ahnung, was tropisch bedeutet.«
10
Der Regen der letzten Tage hatte nicht nur die Berge grün werden lassen, sondern auch die Straßen im Großraum L. A. vom Geruch der Städte befreit. Der Innenstadtbereich war nicht gerade ländlich, genau wie in den meisten anderen Städten, aber er war auch nicht so heruntergekommen wie viele, die Decker gesehen hatte. Es war eine Mischung aus Aufsteigertum und Verwahrlosung, eine Stadt mit einem Identitätsproblem. Central L. A. beherbergte den Sitz des Stadtparlaments und eine Reihe von Luxushotels. Dazu kamen die alteingeführten Banken und Anwaltskanzleien. Das machte jedoch
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