Decker & Lazarus 09 - Totengebet
Oliver wissen.
»Fünf Jahre!«, schluchzte sie.
»Standen Sie ihm nahe?«, fragte Marge.
»Ich habe ihn geliebt!«, jammerte sie.
Marge und Oliver tauschten Blicke. Heather entging das nicht. »Nicht so, wie Sie denken. Ich habe ihn geliebt … hoffnungslos geliebt, verstehen Sie? Er hat mich nicht mit dem kleinsten Finger angefasst!«
Vielleicht nicht mit dem Finger … dachte Oliver.
»Er war ein Gentleman. In jeder Beziehung«, fuhr Heather fort. »Seiner Frau und seiner Familie treu ergeben. Er hätte nicht mal im Traum daran gedacht, einer anderen Frau zu nahe zu treten, geschweige denn eine Affäre anzufangen. Er war zutiefst religiös.«
Marge und Oliver tauschten erneut Blicke. »Klingt, als seien Sie sich Ihrer Sache ziemlich sicher«, bemerkte Oliver.
»Vollkommen sicher.«
»Heather, falls Sie uns auf eine falsche Fährte locken …«
»Wie käme ich denn dazu?«
»Ich will damit nur Folgendes sagen«, begann Oliver. »Falls Dr. Sparks irgendwelche abartigen Neigungen hatte, dann kommt das sowieso früher oder später raus.«
»Nichts, aber auch gar nichts ist an Dr. Sparks je abartig gewesen! Nur seine grenzenlose Güte hat ihn in Schwierigkeiten gebracht.«
»Wie denn das?«, wollte Marge wissen.
»Er war wie gesagt tief religiös. Er hatte ein unglaubliches Gottvertrauen. Und deshalb konnte er die nicht begreifen, die das nicht hatten …«
»O Heather, bitte ersparen Sie den Herrschaften das Leiden Christi!« Ein ungefähr vierzigjähriger Mann streckte Marge die Hand zum Gruß hin. »Reginald Decameron. Entsetzliche Geschichte. Kam gerade in den Nachrichten. Ich hab’s im Autoradio gehört. Kann mir mal jemand sagen, was eigentlich passiert ist?«
Marge musterte den Arzt. Schlank, gut frisiert, schicke Kleidung, schmales Gesicht, hagere Züge, durchdringende Augen. Selbstbewusst bis zur Arroganz. Er trug ein weißes Hemd, graue Hose und einen blauen Kaschmirblazer. Dazu ein Einstecktuch und eine Seidenkrawatte. Sie ergriff seine Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Das war doch selbstverständlich! Ich bitte Sie!« Er wandte sich an Heather. »Wo sind Dr. Berger und Dr. Fulton?«
»Sie können nicht …«
»Was?« Decameron wurde wütend. »Azor ist … wurde ermordet und sie haben keine Zeit, mit der Polizei zu reden?«
»Dr. Fulton kriegt keinen Babysitter, Dr. Decameron. Ihr Mann war nicht zu Hause, als ich angerufen habe.«
»Und welche Ausrede hatte Myron?« Decameron zog die Augenbrauen hoch. »Sitzt seine Frisur nicht, oder was?«
Heather starrte ihn böse an. »Wie können Sie jetzt nur so gemein sein?«
»Gerade jetzt!«, blaffte Decameron zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Oliver. »Es ist eine Katastrophe. Was um Himmels willen ist passiert?«
Oliver fühlte sich unter Decamerons schnellem, abschätzenden Blick ausgesprochen unwohl. Die Botschaft war eindeutig. Der Mann war schwul. »Genau das versuchen wir herauszufinden, Dr. Decameron«, antwortete er süffisant.
Marge ging dazwischen. »Wenn wir das richtig verstanden haben, Dr. Decameron, dann haben Sie, Dr. Berger und Dr. Fulton Dr. Sparks zum letzten Mal bei einem Arbeitsessen gesehen.«
»Ja. Es war eine unserer üblichen wöchentlichen Besprechungen. Hat um sechs angefangen und war gegen acht beendet.«
»Ist während dieser Besprechung etwas Ungewöhnliches passiert?«
Jetzt war es offenbar an Dr. Decameron, sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich gesteh’s lieber gleich. Myron wird sich sowieso auf die Gelegenheit stürzen, es Ihnen brühwarm zu erzählen. Also sag ich’s lieber selbst.«
Im Zimmer war es totenstill.
»Azor war ziemlich sauer auf mich«, gestand Decameron.
»Aha. Und weshalb?«, fragte Oliver.
»Also diese Zusammenkünfte sind vorgeblich ein offenes Forum zum gemeinsamen Ideenaustausch. Gelegentlich vertrete ich meine Meinung etwas aggressiv, dann ist unser großer erhabener Genius meistens verschnupft gewesen.«
»Das habe ich aber anders gehört«, warf Heather spitz ein.
»Darauf komme ich noch, Kindchen. Halten sie sich bitte zurück!« Decameron wandte sich an Marge. »Azor war wie gesagt sauer auf mich. Ich habe ein paar für den großen Doktor bestimmte Datensätze auf seinem Faxgerät gesehen, bevor er Gelegenheit hatte, das Schreiben zu lesen. Eigentlich nichts wirklich Verwerfliches. Aber eben auch nicht gerade die feine englische Art.« Er hielt kurz inne. »Azor war jedenfalls wütend. Nach der Besprechung,
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