Decker & Lazarus 11 - Der wird Euch mit Feuer taufen
das würde kommen. Die schrecklichen Ereignisse ließen sich nicht im Wachzustand verarbeiten. Irgendwo mussten sie einen Auslass finden, und das Unterbewusstsein war dazu bestens geeignet.
Hoffentlich würde das alles erst kommen, wenn er die Befragungen und den Papierkram hinter sich gebracht hatte. Denn das war es, was ihn erwartete – die Hölle und der Papierkrieg. Aber das Selbstmitleid dauerte nur einen kurzen Augenblick. Er war am Leben, Marge war am Leben, seine Kinder waren am Leben, und die meisten Kinder des Ordens waren gerettet worden.
Komm schon, Deck. Lass es gut sein.
Er fragte Rina, wie spät es sei. Seine Worte klangen ihm fremd in den Ohren.
»Zehn nach sieben.«
Zehn nach sieben. Er war gestern um vierzehn Uhr dreißig eingeliefert worden, also hatte er fast fünfzehn Stunden geschlafen. Er fuhr sich durch das feuchte rotblonde Haar. Offenbar hatte er im Schlaf geschwitzt.
»Ich muss Marge sehen«, verkündete er.
»Sie schläft.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er das Gehörte verarbeitet hatte. Sie schläft. »Woher weißt du das?«
»Weil ich gerade bei ihr war.«
»Wie geht es ihr?«
»Ihre Lebenszeichen sind sehr kräftig.«
»Atmet sie selbstständig?«
»Zum größten Teil. Sie bekommt noch Sauerstoff, aber den Intubator haben sie ihr schon vor Stunden abgenommen.«
Decker nickte, spürte, wie sich der Nebel in seinem Kopf lichtete. »Vielleicht gehe ich einfach nur runter und sehe ihr beim Schlafen zu.«
»Du musst dich um dich selbst kümmern, Peter. Du brauchst Ruhe.«
Rinas Stimme klang sehr leise … oder eher gedämpft. Sein Kopf summte immer noch, aber wenigstens konnte er hören.
Dann sagte sie nichts mehr, und das einzige Geräusch war das lästige Summen in seinem Kopf.
»Ich hab gomel gesagt«, verkündete er stolz. Gomel war das jüdische Gebet, das man betet, wenn man einer Gefahr entronnen ist. »Oder zumindest meine Version davon.«
Rina nickte. »Es ist ein wahres Wunder, dass du noch auf zwei Füßen stehst.«
»Na ja, stehen ist vielleicht ein bisschen übertrieben.« Decker sank auf das Kissen zurück. »Wie lange muss ich hier bleiben?«
»Vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung.«
»Du meinst, eingesperrt.«
Rina sah ihn an. Tränen füllten ihre Augen. Ihre Unterlippe begann zu zittern. Sie biss darauf, konnte die Tränen aber nicht zurückhalten.
»Ach, Liebste!« Decker streckte die Arme nach ihr aus. »Mir geht es gut! Nur ein bisschen … Schlafmangel.«
Sie setzte sich auf den Bettrand, schlang die Arme um seinen Hals. Es gelang ihm, sich halb hochzuziehen und sie an sich zu drücken.
Beide weinten sie lautlos, und ihre Tränen vermischten sich. Sie blieben so sitzen, bis die Krankenschwester hereinkam und trällerte, es sei Zeit, Deckers Blutdruck zu messen.
Diese Marge, die zwischen frischen, weißen Betttüchern schlief, war nur schwer mit dem dreckverkrusteten Körper in Verbindung zu bringen, den sie am Tag zuvor aus dem Schlamm gezogen hatten. Trotz der Sauerstoffmaske atmete Marge selbstständig. Durch den intravenösen Tropf wurden ihr Nährstoffe zugeführt. Ihr Herzschlag war kräftig und gleichmäßig. Decker war so von der lebenserhaltenden Maschinerie in Anspruch genommen, dass er das Kind im Pyjama am Fenster von Marges Krankenzimmer zuerst gar nicht bemerkte. Das Mädchen hatte die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, presste den Kopf gegen das Glas, starrte hinaus.
Decker räusperte sich, und die Kleine drehte sich um. Sofort richtete sie sich kerzengerade auf.
»Ganz ruhig, Vega.« Decker band den Gürtel seines Bademantels fester. »Kein Grund zur Panik. Solltest du nicht bei den anderen im Zimmer sein?«
»Mir geht’s gut.« Sie sah weg. »Ich musste sie sehen. Nur um mich zu vergewissern.«
»Ja, das verstehe ich«, stimmte Decker zu. »Mir geht es genauso.«
Vega warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Decker.
»Gut.«
»Weiß jemand, dass du hier bist?«
Vega senkte den Kopf, schüttelte ihn.
»Dann gehst du besser in dein Zimmer zurück. Du willst doch nicht, dass man sich Sorgen macht, weil du verschwunden bist.«
Das Mädchen rührte sich nicht.
»Vega?«, sagte Decker. »Hast du gehört, was ich sagte?«
»Ja, Lieutenant.« Aber sie schien an ihrem Stuhl zu kleben. »Es ist falsch, dass ich nicht gehorche und der netten Krankenschwester nicht sage, wo ich bin. Ich bin sehr ungezogen.«
Decker trat um das Bett herum, ging zu ihr hinüber. Er setzte
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