Defcon One 01 - Angriff auf Amerika
Wasserschlieren liefen die randlose Brille hinunter, und er entschied sich dazu, diese in ein mitgeführtes Etui zu verstauen. Seine mandelbraunen Augen hatten die Sehschärfe eines Adlers und die Brille diente nur der Tarnung, um sich einen intellektuellen Anschein zu geben. Sein feines Gesichtsprofil verriet eine südländische oder möglicherweise auch eurasische Abstammung; die dichten schwarzen Augenbrauen und sein glattes schwarzes Haar hätten aber auch eine arabische Herkunft vermuten lassen können. Es gab nur zwei Menschen auf dieser Welt, die seine wahre Identität kannten, und beide lebten tausende Meilen von hier entfernt auf jeweils anderen Kontinenten. Vor drei Jahren hatte Steve Miller sich in England einer kosmetischen Gesichtsoperation unterzogen, um seine Nase, die seiner Meinung nach durch den Anteil nordafrikanischer Gene in seinen Körperzellen ein wenig zu breit ausgeprägt war, neu zu formen. Die plastische Gesichtschirurgie hatte seinem Gesicht einen Ausdruck absoluter Eleganz, Reinheit und Schönheit verliehen. Aber es war nicht Millers Ansinnen, seinen Körper unter rein ästhetischen Aspekten zu modellieren und seinem göttlichen Schöpfer in das Handwerk zu pfuschen. Sein wirkliches Ansinnen war es, Spuren zu verwischen und Tarnungen anzunehmen und durch sein fast androgynes Gesicht war ihm diese Möglichkeit nun gegeben. Es eignete sich hervorragend, um in andere Erscheinungen und Identitäten zu schlüpfen. Seine schwach olivfarbene Haut ließ sich mit Leichtigkeit unter einer Lage Camouflage verbergen. Sein schmaler und fast zarter Körperbau konnte fraulich wirken, wenn er entsprechend gekleidet und ausstaffiert wurde. Millers Repertoire an Utensilien, die der Maskierung dienten, war groß. Und es geschah häufig, dass diese Utensilien zum Einsatz kamen. Eines der wenigen Bücher westlicher Unterhaltungsliteratur, die Miller jemals gelesen hatte, war Frederick Forsyth` Klassiker Der Schakal ; ein Buch, welches ihn nahezu hypnotisiert hatte und das seitdem immer wieder den Grund lieferte, sich wie ein Chamäleon zu verändern.
Ohne Tarnung war er sich seiner Wirkung auf das weibliche Geschlecht absolut bewusst, allerdings nutzte er diesen Umstand so gut wie nie aus. Miller machte sich nichts aus Frauen, zumindest nichts aus Amerikanerinnen und Europäerinnen. Ihre meist belanglosen Faseleien, ihre lächerlichen modischen Probleme, ihr Besitzanspruch auf einen Mann – all das wirkte auf ihn, dessen persönliche Mission die Erfüllung eines Auftrags des geliebten Propheten Mohammed war, verdorben und dekadent. Für Steve Miller symbolisierte die Frau die Sünde; sie war eine Hure und musste wie eine Hure behandelt werden. Seine Sexpraktiken Frauen gegenüber waren brutal und abstoßend, und die wenigen, die seine Vorlieben und Neigungen hatten erkennen und erdulden müssen, hatten anschließend verstört die Flucht ergriffen. Also bemühte sich Miller schon seit Jahren nicht mehr darum, mit der äußeren Fassade eines kultivierten, attraktiven und irgendwie exotischen Mannes seine Partnerinnen zu beindrucken oder zu überzeugen. Mit seinem Geld und seinen falschen Identitäten und Kreditkarten war er in der komfortablen Situation, sich die teuersten Edelprostituierten zu leisten und diese nach Verrichtung ihrer Liebesdienste für immer zum Schweigen zu bringen. Knapp ein Dutzend Morde an Prostituierten in den Vereinigten Staaten von Amerika gingen in den letzten drei Jahren auf sein Konto, ohne dass er dabei ein erkennbares Muster oder eine verwertbare Spur für das FBI hinterlassen hatte. Auch die Frau im St. Regis, die gestern Abend in einem protzigen französischen Hotelpalast an der 5. Avenue wegen ihrer sexuellen Unzulänglichkeiten mit durchtrennter Kehle ihr Leben beenden musste, ging auf sein Konto. Miller hatte sich dort mit falscher Kreditkarte und Identität ein Zimmer gebucht und war anschließend in aller Seelenruhe zu seinem eigentlichen Hotel, dem Waldorf Astoria, geschlendert. In seiner dortigen Suite hatte er das Radio auf ein Programm mit klassischer Musik eingestellt und sich ein heißes Bad gegönnt. Als der Sender Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung gespielt hatte, war Miller gedanklich in die Welt des kleinen Wiener Komponisten, der fast Zeit seines Lebens auf dem Landsitz der wohlhabenden Familie Esterházy abgeschieden von den musikalischen Strömungen der restlichen Welt sein musikalisches Oeuvre schrieb, abgetaucht. Mit sich und der Welt im Reinen, war
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