Dein bis in den Tod
plötzlich füllten ihre Augen sich mit Tränen. Auch ihre Stimme war voller Tränen, als sie sagte: »Es gibt für mich nur …« Und ihre Lippen formten stumm seinen Namen – den Namen eines Toten.
Ich ließ sie weinen. Es kam kein Laut aus ihrem Mund, und sie saß mit geradem Rücken da und ohne die Hände zum Gesicht zu heben. Die Tränen liefen einfach aus ihren Augen, liefen in schimmernden Streifen ihre Wangen hinunter, an ihren Nasenflügeln vorbei, liefen weiter zum Mund, an den Mundwinkeln vorbei und zum Kinn. Ich folgte ihnen mit dem Blick, als sähe ich den ersten Frühlingsbach, das allererste Frühlingszeichen im März, wenn es ist, als würden die Gletscher unter der jungen Sonne dahinschmelzen, als würde sich die ganze Nacht dem kommenden Fest entgegenbäumen.
Dann waren ihre Tränen versiegt. Als sie zu weinen aufhörte, holte ich ein sauberes Taschentuch hervor und beugte mich zu ihr. Ich trocknete ihr die Tränenspuren vom Gesicht, bis nur noch ein geschwollener, roter Rand um die Augen übrig war. Ich sagte: »Ich werde wiederkommen, Wenche. Sei ganz ruhig. Alles wird gut. Ich weiß es.«
Sie nickte mit geschwollenen Lippen.
Ich spürte einen merkwürdigen Sog im Bauch und hob den Blick langsam von ihren Lippen zu ihren Augen. Ich versuchte, meinen Blick hinter ihrer Netzhaut einzubrennen, um die Trägheit und den Schleier in ihr zum Platzen zu bringen und sie aus dem Dornröschenschlaf zu wecken.
Ich konnte nicht anders und lehnte mich über den Tisch, fühlte die Tischkante im Bauch, sah ihr Gesicht wachsen.
Wenn sie sich zu mir vorgebeugt hätte, hätte ich sie geküsst.
Aber sie beugte sich nicht vor. Sie saß aufrecht und gerade auf der anderen Seite des Tisches, zweitausend Meilen und eine andere Liebe lagen zwischen uns. Also lehnte ich mich wieder zurück und sagte: »Okay. Das war alles.«
Wir standen ungefähr gleichzeitig auf, und es gab nichts mehr zu sagen.
Sie sagte nur: »Sei vorsichtig, Varg.«
Und ich antwortete: »Ja.«
Die Wächterin war auch aufgestanden. Ich sah zu, wie sie Wenche Andresen wieder in die Zelle zurückführte. Wenche Andresen bewegte sich wie eine Patientin, die nach langer Krankheit gerade wieder anfing zu gehen. Die Wächterin war eine strenge Stationsschwester, die sie resolut wieder zum Bett zurückbrachte.
Und ich? Ich war der Wind. Ich strich vorbei, und die Leute bemerkten es kaum. Ich stellte meine Fragen und bekam neue Fragen zurück. – So ist es, wenn man liebt, oder? hatte sie gefragt.
Schon möglich. Die Liebe ist eine einsame Sache, wie ein Stein, den man einmal an einem Strand gefunden und in der Tasche einer Hose verstaut hat, die man nur selten trägt. Aber er liegt da, irgendwo im Schrank, und du weißt das. Er wird dich dein Leben lang begleiten, von der Geburt bis zum Tod, und du weißt das. Die Liebe ist blind wie ein Stein und einsam wie ein verlassener Strand, und du weißt das.
Ich verließ das Polizeigebäude.
42
Ein grauer Zementblock hatte sich über die Stadt gesenkt, und es war unnatürlich dunkel geworden. Bald würde es regnen.
Ich ging schnell zum Strandkai und in das Gebäude, in dem sich mein Büro befindet, auch wenn ich nicht da bin. Als ich an der Cafeteria im ersten Stock vorbeikam, streifte starker Kaffeegeruch meine Nase. Aber ich ließ mich nicht verführen, sondern ging weiter nach oben.
Ich schloss mein Büro auf. Drinnen erwartete mich stickige, trockene Heizungsluft und alter Staub. Es roch wie in einer verlassenen Grabkammer. »Hallo Grab! Hier kommt die Leiche«, sagte ich laut.
Aber niemand antwortete, nicht einmal das Echo meiner eigenen Stimme.
Ich hängte meine Jacke auf und setzte mich an den Schreibtisch. An der Wand gegenüber hing ein Kalender. Darauf war noch Februar, und ich hatte das Gefühl, mir würde es zu anstrengend sein, hinzugehen und das Blatt abzureißen, die Zeit auf März vorzustellen. Außerdem gefiel mir das Februarbild besser. Es war ein Foto vom Hafen, mit Pulverschnee auf den Dächern, und Berge und Himmel sahen aus, wie ein sechs Jahre altes Kind sie gemalt hätte, rein und blau.
Ich drehte den Stuhl herum und schaute aus dem Fenster. Eine himmlische Hand hatte eine Hand voll Wasser an die Scheiben gespritzt. Draußen war es jetzt finster geworden. Die Autos auf Bryggen fuhren mit Licht, und nicht nur, weil sie vergessen hatten, es hinter dem Eidsvågtunnel auszuschalten.
Ich sah, wie unten auf dem Marktplatz die Markthändler Plastikplanen über ihre Tische
Weitere Kostenlose Bücher