Dein Blut auf meinen Lippen
also, dass ich eine herausragende Stellung einnehme, die Ihren Ansprüchen hoffentlich genügt."
Julias Magen krampfte sich zusammen. Die Art, wie dieser Mann seine Vorzüge anpries, konnte nur eines bedeuten. Trotzdem erwiderte sie: "Ich wüsste nicht, was all das mit mir zu tun haben sollte."
Der Graf setzte wieder sein breites Grinsen auf. "Was das mit Ihnen zu tun hat? Nun, in wenigen Tagen werden Sie meine Frau sein."
"Ihre Frau ?"Julias Herz begann panisch zu klopfen, so als wollte es ihren Brustkorb sprengen. Es stimmte also wirklich! Sie hatte es befürchtet, seit sie seinen dümmlichen Brief gelesen hatte.
"Ich habe bereits alle Arrangements getroffen, zusammen mit Ihrem Vater und Ihrer Mutter natürlich. Die Verbindung unserer beiden Familien wird die Position Ihres Vaters gegenüber dem Fürsten erheblich stärken, vor allem in der jetzigen Situation, wo für Ihre Familie so viel auf dem Spiel steht. Sobald Sie zum ersten Mal einen Menschen getötet und Ihre Verwandlung vollzogen haben, werden Sie mein. Von da an hat Ihre Familie nichts mehr zu befürchten."
Graf Paris betrachtete Julia siegesgewiss, doch sie sah ihn so entgeistert an, dass es einem Affront gleichkam.
Dennoch ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. "Darauf sollten wir anstoßen", fuhr er fort. "Ich winke einen Diener herbei und lasse Ihnen einen Kelch bringen. Aber seien Sie gewarnt, mein Fräulein! Sobald Sie auch nur einen Schluck Blut zu sich nehmen, gibt es kein Zurück mehr!"
Julia war wie vor den Kopf gestoßen. Es war empörend, wie der Graf und ihre Eltern sie für ihre politischen Machtspielchen benutzten! Am liebsten hätte sie ihnen in die widerwärtig roten Augen gespuckt. Es gelang ihr nur ansatzweise, ihre Wut zu zähmen, und sie überlegte, wie sie dem Grafen auf andere Weise zeigen konnte, was sie von ihm hielt.
Sie nahm seinen Kelch, hielt ihn mit ausgestrecktem Arm in die Höhe und verkündete laut: "Auf die Freuden des Ehestands!" Dann kippte sie den Kelch mit einer schnellen Bewegung und schüttete seinen Inhalt über dem Grafen aus.
Ihr "Verlobter" schrie vor Schreck laut auf, sodass alle, die von der Szene bis jetzt noch nichts mitbekommen hatten, in seine Richtung schauten.
Einige Damen der besten Gesellschaft empörten sich lauthals über Julias ungeheuerliches Benehmen, und ein älterer, verhärmter Vampir schüttelte den Kopf und sagte: "Graf Capulet wird sie auspeitschen lassen, wenn er davon erfährt."
Dazu muss er mich aber erst mal in die Finger kriegen , dachte Julia und rannte quer durch den Ballsaal. Sie wusste, wo man sie niemals finden würde.
Unter dem Schloss befanden sich vier lange, dunkle Tunnelgänge. Tagsüber wurden sie von der Dienerschaft benutzt, wenn sie ihre Arbeit in den zahlreichen Räumen des Schlosses zu verrichten hatte und auf dem Weg von einem Zimmer zum anderen die schlafenden Herrschaften nicht stören wollte. Nachts boten diese Gänge den Bediensteten die willkommene Möglichkeit, sich ungesehen aus dem Schloss zu schleichen, wenn sie sich in dem nahen Städtchen vergnügen wollten. Ursprünglich war das Tunnelsystem jedoch zur Verteidigung gegen Angriffe der Montagues angelegt worden. Es diente nicht nur als Versteck, sondern erlaubte den Capulets auch, schnell die Kampfstellung zu wechseln, den Feind an unerwarteten Orten anzugreifen und in die Flucht zu schlagen. Von den Hauptgängen führten Seitenarme zu Arrestzellen und Folterkammern, die mit Marterwerkzeugen, wie zum Beispiel Daumen- und Knieschrauben, ausgestattet waren.
Auch am Ende des südlichen Tunnels befand sich eine Gefängniszelle. Sie war nicht viel größer als ein herrschaftlicher Kleiderschrank, aber schon seit Jahren suchte Julia dort Zuflucht, wenn sie sich wieder mit ihren Eltern gestritten hatte. Jetzt war sie ebenfalls auf dem Weg dorthin. Da sie schon sehr oft diese Zelle aufgesucht hatte, fand sie sich nun trotz der Dunkelheit - sie hatte nur eine kleine Kerze mitgenommen - problemlos im Tunnelsystem zurecht.
Das Echo ihrer hochhackigen Schuhe hallte von den feuchten Wänden wider und übertönte das Geflüster, das aus der Ferne zu hören war. Eine der Stimmen – und zwar die einer Frau - kam Julia bekannt vor, die anderen waren ihr fremd. Es mussten wohl irgendwelche Diener sein. Julia wollte nicht von ihnen entdeckt werden und beschleunigte daher ihre Schritte. Sie raffte ihren Rock mit einer Hand hoch, um schneller laufen zu können; und als die Stelle kam, wo der Gang niedriger
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