Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
(»Ja, ich habe es gesehen«), als ich ihn fragte, ob er vom Putsch gegen Chávez in Venezuela erfahren habe (und er hatte hinzugefügt: »Noch etwas, Jack?«). Meiner war noch nicht wütend, aber hätte ich die unverbundene Reihe fortgesetzt, wäre dieser Ton es zunehmend geworden, man erhitzt sich oder macht sich naß, meistens tut man das nur im Kopf, vor allem, wenn es zu einer Pause, einer Verdichtung, einem erzwungenen Warten zwischen den Tatsachen und dem Ausbruch kommt. Tupra schien sich durch meine heftig hervorgestoßenen Worte nicht betroffen zu fühlen, noch nicht – nicht einmal unbehaglich oder leicht verstimmt –, und schnitt mir den kaum begonnenen Schwall mit einem gelassenen, beiläufigen Satz ab, den ich nur zum Teil verstand. Nichts zügelt so sehr, wie nicht zu verstehen, nichts ist so dringlich, nichts so stark, wie verstehen zu wollen.
»Das habe ich von den Krays gelernt.« »The Krays«, sagte er auf englisch, mit dem im Spanischen unnötigen Plural für die Nachnamen oder die Familien, wenn sie kollektiv benannt werden (der Plural steckt schon im Artikel, »los Manoia« ), den immer mehr einheimische Idioten in ignoranter Nachahmung auf unsere Sprache übertragen: sie werden am Ende noch »los Lópeces« oder »los Santiestébanes« oder » los Mercaderes « sagen. Aber ich verstand in dem Augenblick das Wort nicht, weder stellte ich es mir mit einem Großbuchstaben vor noch wußte ich, daß es ein Name war, und schon gar nicht, wie er geschrieben wurde ( crase, craze, kreys, crays, crease, creys oder sogar krais ? Uns Spaniern fällt es in der Mehrheit schwer, die verschiedenen S-Laute zu unterscheiden). Deshalb hielt ich den Sturzbach jäh an, während er zugleich vor einer Ampel hielt.
»Von den was?«
»Eher von den wen«, antwortete er. »Die Gebrüder Kray, k, r, a, y .« Und er buchstabierte es sofort, wie es in seiner Sprache üblich ist. »Du mußt nicht von ihnen gehört haben, es waren Zwillinge, Ronnie und Reggie, zwei bahnbrechende Gangster der fünfziger und sechziger Jahre, die im East End angefangen hatten, Leute, die aus Bethnal Green oder aus der Nähe stammten; sie machten sich auf dem Terrain der Italiener und der Malteser breit, sie gediehen, sie expandierten, bis sie Ende der Sechziger im Gefängnis landeten, einer starb hinter Gittern, und der andere sitzt immer noch seine Strafe ab, glaube ich, er muß schon ziemlich alt sein und wird sicher nie herauskommen. Sie waren gewalttätig und gefürchtet wie wenige, jähzornig, konnten ihre Grausamkeit kaum kontrollieren, ziemlich sadistisch, und am Anfang ihrer Laufbahn benutzten sie Schwerter. Sie taten es natürlich aus Not, sie hatten kein Geld für teurere Waffen bei ihren ersten Strafaktionen und Einschüchterungen. Sie lösten Entsetzen aus mit ihren Säbeln, sie markierten ihre Opfer von Ohr zu Ohr mit einem einzigen Hieb oder auf der Länge des ganzen Rückens oder noch tiefer. Sie machten ihnen eine zweite Ritze, unglaublich, und bei einer Frau waren es angeblich einmal vier. Es gibt ein oder zwei Bücher über sie, und es gab einen Film, ich dachte, du gehst ins Kino. Vielleicht wurde er nicht in Spanien gezeigt, zuviel Lokalkolorit für andere Länder, kleine Geschichte aus London. Aber ich habe ihn gesehen, und in einer Szene oder zwei konnte man sehen, wie sie mit ihren Schwertern Panik verbreiteten. Ich erinnere mich an eine, in einem Billardsalon. Er war nicht schlecht, ziemlich gut recherchiert, und die Schauspieler waren ebenfalls Zwillinge. Biographisches Kino, so sagt man.« Noch nie hatte ich diesen Begriff gehört. »Biopic« wohl, aber »biographical cinema« niemals, und das war es, was er gesagt hatte.
Er hatte mir längst den Wind aus den Segeln genommen, zumindest vorübergehend. Das war sein übliches Verfahren, wenn er sprach, er reihte einen Satz an den anderen, und mit jedem wich er mehr von dem ab, was zum ersten geführt hatte, vom Anlaß des Gesprächs oder seiner Ausführungen, wenn es darum ging. In diesem Fall war der Anlaß meine Empörung, mein Groll darüber, daß er mich in seine Brutalitäten verwickelt oder mich gezwungen hatte, sie zu betrachten, in Filmen und Romanen wird jeder beliebige für nichts und wieder nichts umgebracht, und niemand zuckt dabei mit der Wimper, weder der Autor noch die Personen, weder die Zuschauer noch die Leser, es scheint immer so einfach zu sein und so normal, so häufig. Aber das ist es nicht im wirklichen Leben. Es ist weder einfach noch
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