Dein ist das Leid (German Edition)
heikel. „Wir sind dabei, mit jedem zu reden, der Paul kannte, wenn auch nur ganz flüchtig. Jetzt müssen wir dringend mit Ihrem Onkel sprechen.“
„Meinem Onkel?“ Amanda blinzelte. „Wieso? Er hat Paul doch kaum gekannt. Und wenn er irgendetwas wüsste, hätte er es mir sofort nach Justins Diagnose erzählt.“
„Das hätte er ganz sicher. Aber nach unseren Erfahrungen besitzen die Menschen oft Informationen, von denen ihnen gar nicht klar ist, dass sie sie haben. Es ist durchaus möglich, dass Ihr Onkel mal etwas aufgeschnappt hat, vielleicht bei einer beiläufigen Unterhaltung oder einer geschäftlichen Besprechung, das ihm damals so unwichtig erschien, dass er es sofort vergessen hat.“
„Und Sie glauben, Sie könnten in der Lage sein, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.“ Amanda klang eher nachdenklich als misstrauisch. Aber sie hatte ja auch keinen Grund zu der Annahme, dass Casey nicht vollkommen aufrichtig sein könnte. „Ich glaube nicht, dass das was bringt. Onkel Lyle hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Andererseits glaubt er immer noch, dass Paul tot ist – und an Tote verschwendet er normalerweise keinen Gedanken mehr. Einen Versuch könnte es vielleicht wert sein.“
Die Gelegenheit ließ Casey sich nicht entgehen. „Bei Justins Zustand sollten wir keine Sekunde verschwenden. Ich würde gern heute Abend noch in die Hamptons rausfahren, Marc auflesen und dann rüber nach East Hampton, wo Ihr Onkel sein Anwesen hat. Dann könnten wir sofort mit ihm sprechen. Meinen Sie, er wäre dazu bereit?“
„Sicher – wenn er denn da ist.“ Amanda runzelte die Stirn. „Ich habe keine Ahnung, wie sein Terminkalender aussieht. Er könnte überall sein, vielleicht sogar hier in Manhattan.“ Sie holte ihr Handy heraus und schaltete es wieder an; da auf der Intensivstation Handys natürlichverboten waren. „Ich frage mal kurz nach, damit Sie die lange Fahrt nicht umsonst machen.“
Casey wartete ungeduldig. Es dauerte mehrere Minuten, in denen Amanda offenbar einige Male weiterverbunden wurde, bis sie das Gerät wieder abschaltete.
„Das am Schluss war Frances, seine Haushälterin“, erklärte sie. „Anscheinend war mein Onkel unten in Washington. Aber er kommt heute Abend zurück. Sie hat ihn erreicht, und er meinte, Sie und Marc könnten heute Abend um acht vorbeikommen. Schaffen Sie das?“
„Das klappt schon.“ Casey drückte ihre Hand. „Gehen Sie jetzt wieder rein zu Justin. Aber verlieren Sie die Hoffnung nicht.“
„Das versuche ich. Aber es wird mit jedem Rückschlag schwerer.“ Amanda presste die Lippen zusammen. „Fahren Sie los. Wenn mein Onkel Ihnen helfen kann, dann wird er das auch tun.“
Das wird er in der Tat, dachte Casey. Viel mehr, als ihm selber klar sein wird.
Amanda sah Casey nach und versuchte, die in ihr aufsteigende Panik zu bekämpfen, die alles andere überlagerte. Forensic Instincts wollte mit ihrem Onkel reden. Für die war das vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung. Aber ihr kam es vor wie hoffnungsloses Greifen nach Strohhalmen. Selbst wenn Onkel Lyle sich an irgendetwas Wichtiges über Paul erinnern sollte – was sie stark bezweifelte –, wie lange sollte es dann noch dauern, bis sie irgendetwas Konkretes in Erfahrung brachten und Paul fanden? Wochen? Noch länger?
Vielleicht hatte Justin nur noch Tage zu leben.
Langsam wurde es Zeit, dass sie nach ihren eigenen Strohhalmen griff.
Als Melissa die Idee zum ersten Mal aufbrachte und sie dazu drängen wollte, nicht alles auf eine Karte zu setzen, hatte Amanda nichts davon gehalten. Aber jetzt ging es Justin noch schlechter, und Amanda war längst jenseits der Verzweiflung. Außerdem war die Idee durchaus vielversprechend. Schließlich hatte sie auch so ihre Kontakte. Melissa würde alles arrangieren.
Das Team von Forensic Instincts brauchte davon nichts zu wissen. Es würde sie nur von der gegenwärtigen Richtung ihrer Ermittlungen ablenken, und es würde sie zudem verärgern, beides wäre von Amanda nicht von Vorteil. Sie hatte nichts anderes vor, als noch mehr Leutenach Paul suchen zu lassen.
Und vielleicht, vielleicht würde die richtige Person – jene Person, die Paul gesehen hatte – irgendwo da draußen sein und auf ihren Hilferuf reagieren.
FBI
Außenstelle New York
26 Federal Plaza, Manhattan
Büro des stellvertretenden Direktors
Supervisory Special Agent Neil Camden, Chef der Ermittlungsgruppe, die die kriminellen Unternehmungen einer Mafiafamilie namens
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