Dein Name
afghanischen Intellektuellen nach seiner Geschichte fragen, der täglich um Punkt elf in die Kneipe einläuft, er könnte, nein, müÃte endlich einmal wie alle anderen in der Gasse mit der Nutte ins Gespräch kommen, die schon vor zwanzig Jahren mit ihrer Erfahrung warb. Er macht die Erfahrung nicht, sondern grüÃt nur jeden im Viertel, mit dem sich der Gruà über die Jahre ergab, hält Ohren und Augen auf, um Hinweise nicht zu verpassen, erkundigt sich zwei Sätze mehr, als nötig wären, nach dem Befinden oder bleibt fünf Minuten länger, als er es sich in seiner üblichen Eile erlauben würde, in den Zelten der Chinesen, Inder, Iraner oder Kölner stehen, um ein Schwätzchen zu halten, wobei er streng die Neugier des Reisenden abwehrt. Wenigstens zu Hause will er fremd bleiben, ob er auch längst zur Gasse gehört wie die Modelleisenbahnen, der Fischhändler oder die zwei Mariastatuen über den Eingängen anatolischer Restaurants. Wahrscheinlich fragen sich der oder die Transsexuelle, die närrische Alte in Knallgelb und der afghanische Intellektuelle umgekehrt auch, was wohl seine Geschichte ist. Nach dem Namen sollte der Nachbar den blonden Syrer dennoch einmal fragen.
Gleichsam mit der Beendigung der monumentalen Stuttgarter Ausgabe, die als eine der herausragenden Leistungen der deutschen Philologie gilt, tritt der fünfunddreiÃigjährige Werbeleiter eines Volkswagen-GroÃhändlers bei Kassel am 6. August 1975 um 11 Uhr im Hotel Frankfurter Hof vor die versammelte Kulturpresse Deutschlands und verspricht eine neue Hölderlin-Edition in zwanzig Bänden nach revolutionären Prinzipien der Textkritik: durchgehende Faksimilierung sämtlicher Handschriften und ihre exakte Transkription, Absage an die Hierarchisierung verschiedener Textvarianten, konsequente Ãberprüfbarkeit aller editorischen Entscheidungen. Neben dem Werbeleiter sitzt, ebenso jung und langhaarig, ein Kleinverleger, der aus seinem Vornamen ebenfalls zwei GroÃbuchstaben gemacht hat und die Deutsche Kommunistische Partei von links attackiert. Ihre Pressekonferenz löst in Deutschland einen regelrechten Kulturkampf aus wegen â man mag es sich 2007 kaum noch vorstellen â nur wegen einer Edition. Um die Aufregung zu begreifen, muà man zum Nationalsozialismus zurückgehen, der um Hölderlin einen vaterländischen Kult betrieb, aber zugleich die institutionellen Grundlagen für die Hölderlin-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland legte: die Hölderlin-Gesellschaft mitsamt ihres Jahrbuchs, das Hölderlin-Archiv und vor allem die Stuttgarter Ausgabe, in deren Bestreben, aus dem Knäuel der Lesarten die eine, abgeschlossene Fassung zu präparieren, man die Sehnsucht der Nazis nach nationaler Repräsentanz herausspüren mochte. Ãberhaupt waren Hölderlin-Tagungen eine der letzten Bastionen der Bildungsbeschaulichkeit in aufrührerischen Zeiten. Die Frankfurter Ausgabe, die auf fünf Jahre angelegt war, sollte den Dichter vom nationalmythologischen Mief seiner Rezeption befreien, abseits der Universität und ohne öffentliche Förderung. Sechs Jahre später, als das Projekt vor dem Abbruch stand, gerade vier von zwanzig Bänden waren erschienen, schrieb der Herausgeber in einem »brief an die rezensenten«, nichts weniger als Deutschlands Schicksal entscheide sich am Umgang mit Hölderlin: »denken sie darüber, wie sie wollen.« Zwar ist der Verlag zwischenzeitlich in den Konkurs gegangen, muÃten die verachteten Institutionen als Geldgeber doch noch einspringen und hat der Herausgeber sich mit dem Verleger so sehr zerstritten, daà sie nicht einmal mehr miteinander reden, aber in ihrer Vollständigkeit, Akribie, Authentizität, Nachprüfbarkeit und auch Schönheit hat seine Ausgabe MaÃstäbe gesetzt, die seither an die Editionen von Kafka, Kleist oder Keller gelegt wurden: Der Frankfurter Hölderlin sei das bleibende Verdienst von Achtundsechzig, sagte es Jürgen Habermas. Der Herausgeber, mit höchsten Preisen ausgezeichnet und von der Universität Hamburg zum Ehrendoktor ernannt, ist noch immer nicht unumstritten, das wird ein solcher Himmelsstürmer nie sein â aber er ist jetzt wer, selbst in der Fachwelt, auf die er so wenig gab. Kein Forscher käme noch ohne seinen Hölderlin aus, der über alle Krisen und Zerwürfnisse hinweg wuchs â und die Hälfte
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