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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Mal vor zwanzig Jahren fuhr. Nur wegen der Ferien ist es möglich. An normalen Tagen brauchten sie wegen des Verkehrs für jeden Block eine Viertelstunde.
    Der Mentor, dessen religiös-philosophische Zeitschrift der Nukleus der Reformbewegung war, hat sich ins Druckgeschäft zurückgezogen, um über Büros, Geld, Mitarbeiter und vor allem Papier zu verfügen, wenn man in Teheran wieder laut seufzen darf. Sie gehen die Theologen, Journalisten, Professoren und Politiker durch, mit denen er den Berichterstatter bekannt gemacht hat. Einer nach dem anderen sind sie im Gefängnis, im Exil oder dürfen sie nicht mehr lehren, wurden ihre Zeitungen geschlossen, ihre Bücher zensiert, haben sie ein Berufs- oder ein Turbanverbot, leben sie vom Ersparten, von Gelegenheitsjobs oder bei Verwandten in der Provinz. In Schiraz wurden wieder Bahais hingerichtet, im ganzen Land Derwischklöster gestürmt, den Pirs auf der Straße die langen Haare geschoren. Dem Parlament liegt ein Gesetz vor, das die Apostasie zum Straftatbestand erklärt, der mit dem Tod zu ahnden ist, zwingend mit dem Tod. Nicht einmal Ajatollah Chomeini hat so etwas in Erwägung gezogen. Zwischendurch hebt der Mentor den Hörer ab. – Dreißig Tonnen Gelasi? Preis? Als ob ich nicht wüßte, was auf dem Weltmarkt los ist. Auf dem Taschenrechner überprüft er die genannten Zahlen. Empfang Bandar Abbas geht in Ordnung. Kartoniert, Heftumschläge, Rollen, anderthalb Zentimeter wären gut, siebzig Tonnen ideal, bei fünfunddreißig nehmen wir alles. Andere Anrufer bringen die neuesten Nachrichten. – Was macht Ghom? In Ordnung, ich hör mich im Basar um. Der Mentor entschuldigt sich, so oft das Gespräch zu unterbrechen. – So erfahre ich viel mehr, sagt der Berichterstatter, als schon der nächste Anruf kommt. – Der? Ach, der ist auch verhaftet worden? Bis hinab zu den Gouverneuren, Bürgermeistern, Dezernatsleitern wird Iran von ehemaligen Geheimdienstlern und Revolutionswächtern regiert. Selbst die Reformer haben den Glauben an die Reformierbarkeit verloren. Die Gespräche in der Familie und unter Freunden, die vor ein paar Jahren erhitzt um Politik und Religion, neue Literatur oder die Frauenbewegung kreisten, plätschern heute mit Anekdoten und Wie geht’s dem? und Was macht der? dahin. Über welche Bücher sollte man auch diskutieren, wenn keine mehr erscheinen? Trostlos die Situation an den Universitäten, wo jedes Wort zuviel das Examen gefährdet, dafür der Drogenkonsum so gewöhnlich geworden ist, daß man auf dem Campus schon fragen muß, wer ohne Betäubung auskommt. So war es tatsächlich nur ein Lüftchen? fragt der Berichterstatter. Der Sturm kommt noch, antwortet der Mentor. Jetzt ist es Montag, der 24. März 2008, 0:48 Uhr. Der Ort ist Teheran.
    Die Geschichte der Bahais führt Urgroßvater als chedmatgozâr auf, wörtlich: »der einen Dienst geleistet hat«. – Welche Geschichte? frage ich, kann man sie nachlesen? – Die Geschichte der Bahais eben, antwortet der Onkel mütterlicherseits, dort ist dein Urgroßvater aufgeführt, obwohl er Muslim war. Als der Mob das Haus seines Schwagers plünderte, dem Vater von Enayatollah Sohrab und Großvater des Cousins aus Rüdesheim, hat Urgroßvater bei Zell-e Soltan persönlich interveniert. Daß der Neffe aus Deutschland ihn nach den Vorvätern frage, belebt den Onkel, dem es wie Jean Pauls Bäumen geht, die lange vor dem Umsägen eingekerbt werden, damit ihnen der Lebenssaft entfließe. Ab ihrem neunten Jahrzehnt scheinen Menschen so schnell zu vergreisen, wie sie als Kleinkinder wachsen. Vielleicht liegt es auch an der Einsamkeit, wie sie im Iran keine Generation vor ihnen kannte, ihre Kinder nicht nur in einem anderen Viertel, in einer anderen Stadt, sondern zwei Kontinente entfernt. War er bei Bewußtsein, hat sie sehr gelitten? »Nicht wie Tante Lobat« ist das Kodewort, das die Klage verbietet.
    Nach zehn Minuten fragt Großvaters gelehrtester Freund, wie es dem Agha Navid geht. – Eure Exzellenz, ich bin es doch selbst, Navid. – Nein, wirklich? Sie sind so klein geworden. Großvaters gelehrtester Freund sagt »klein«, kutschik , so wie alte Leute klein werden, hingegen Kinder, die man länger nicht gesehen hat, sonst immer größer geworden sind. Schnell wird dem Enkel aus Deutschland klar, daß er zu spät kommt,

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