Dein Name
hat der Roman nur einen Pfad, auf den Jean Paul von seinen Abschweifungen zurückkehrt, das nicht eben aufregende Leben eines Lehrers, der es dank glücklicher Umstände in einer Kleinstadt namens Flachsenfingen zum Pfarrer bringt. Das heiÃt, aufregend ist es schon, allerdings nicht, weil viel passiert, sondern weil es Egidius Zebedaus Fixlein (mit einem Allerweltsnamen wie Meister oder Moor speist Jean Paul keinen Helden ab), weil es Quintus Fixlein vor dem Tod graut, der bisher alle männlichen Mitglieder der Familie mit zweiunddreiÃig Jahren ereilte. Das Leben ist aufregend nur für ihn, und genau hierin liegt seine Wahrheit. Durch die denkbar einfachste, weder ausgeführte noch begründete Behauptung, daà der Held, an dem gerade nichts bemerkenswert scheint, zur Hälfte der durchschnittlichen Lebenserwartung seines Jahrgangs, Erdteils und Geschlechts sterben wird, erzeugt Jean Paul jene Spannung, die der langweiligste Trott noch für den hat, der ihn auf Erden geht. Normalerweise will ein Roman, daà man mit dem Helden bangt und leidet. Im Quintus Fixlein bangt und leidet jemand, aber man ist davon so betroffen, wie wenn man von der Unterhaltung am Nebentisch eines Restaurants zufällig einen Schicksalsschlag aufschnappt. Es hat nichts mit mir zu tun, es ist nur mein Nachbar; sobald ich die Rechnung bezahlt habe, gehe ich nach Hause und werde dem Getroffenen nie wiederbegegnen. Nirgends habe ich das MiÃverhältnis besser ausgedrückt gefunden von dem, was dem einen das Existentiellste, den übrigen hingegen notwendig gleichgültig ist. In einer Rundmail scheinbar an alle Adressen seines elektronischen Verzeichnisses, die mich am Sonntag, dem 7. September 2008, um 20:35 Uhr erreicht hat, verabschiedet sich jemand, dessen Name ich nicht einzuordnen weiÃ, mit dem ich vermutlich nur ein einziges Mal korrespondierte, ohne mich an den Anlaà zu erinnern, vorsorglich von allen Freunden und Bekannten, da er vor einer Behandlung stehe, die er womöglich nicht überlebe. Es geht mich nicht mehr an als am 28. April desselben Jahres die Nummer neun meine Mitteilung, an Krebs erkrankt zu sein, nur daà die Nummer neun spontan o Gott ausrief, sie müsse auch mal wieder zur Vorsorge. So unangenehm der Nummer neun selbst die Reaktion war, so emsig sie sie durch Nachfragen relativierte, ich nahm ihr den Affekt nicht übel, im Gegenteil, geradezu dankbar war ich, etwas Ehrliches aufblitzen zu sehen, die unverstellte Ansicht, wie wenig das eigene Schicksal schon für den Nachbarn zählt. Wäre ich nicht zufällig ich, hätte die Mitteilung, an Krebs erkrankt zu sein, für mich genauso wenig gezählt. In den Biographischen Belustigungen , die im selben Jahr wie der Quintus Fixlein entstanden und zunächst ganz und gar unlustig »das Bild eines kränklichen fieberhaften Herzens« weitermalen, ohne sich um eine Historie zu scheren, bemerkt Jean Paul, daà der Mensch keine Vernunft annehme: einen einzelnen Friedhof zu sehen gehe ihm ans Herz, wo er doch wisse, daà die ganze Erdkugel gleichsam mit Begrabenen überbaut sei »und es einen Jammer gebe, den unser Mitleiden nicht umreichen kann, eine unabsehliche wimmernde Wüste, vor der das zergangne Herz zerrinnt und erstarrt, weil es nicht mehr Gequälte , sondern nur eine weite namenlose Qual erblickt«. Mitleiden setzt voraus, vor dem meisten, nein, an so gut wie allem Leid unbeteiligt vorüberzugehen â daà prinzipiell vorübergegangen wird.
Soweit sie getippt sind, könnte der Sohn die gesamten Aufzeichnungen der Mutter verwenden. Indem sie ihre Kindheit beschreibt, beschreibt sie zugleich das Leben seines GroÃvaters, etwa das dreizehntägige Neujahrsfest zu Beginn des Frühlings, Nouruz , dessen Heiterkeit den Ausgleich zu den kathartischen Trauerritualen bot. An den Tagen zuvor wurde das Haus gründlich gereinigt, GroÃmutter nähte bis in die Nacht an ihrer sensationellen Singer , und der Duft der Plätzchen und SüÃspeisen versetzte die Kinder, wie alle Kinder, in einen Taumel der Vorfreude und Erwartung. Am Neujahrstag schmückte GroÃmutter das Haus mit Blumen, verteilte die Körbe mit Obst sowie die Silberschalen mit SüÃspeisen auf den Tischen und kleidete meine Mutter und ihre Geschwister von Kopf bis Fuà neu ein. Das haft sin , also das Tischchen mit sieben ( haft ) Speisen und Gegenständen, die mit dem Buchstaben sin beginnen,
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