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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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achten. Lieber, guter Großvater: Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, aber auch hier übersehen Sie meines Erachtens einen wichtigen Aspekt. Die iranischen Kinderzimmer, die Sie als gewöhnlich bezeichnen, gehören zu Häusern der Ober- oder der oberen Mittelschicht. Indes hatten meine Eltern und Brüder 1963 Jahre regelrechter Armut hinter sich, zu fünft auf achtzehn Quadratmetern in einem Hochhaus in Erlangen. Ihr halbwegs bürgerliches Leben in Siegen hatte gerade erst begonnen und war noch immer bescheiden. Bei aller Bewunderung für Ihren vorurteilsfreien Blick auf eine fremde Kultur, wie er unter Iranern selten genug ist – zu behaupten, daß die westlichen Kinder genügsam, die iranischen Kinder verwöhnt seien, der Westen insgesamt spirituell, der Orient materialistisch, erscheint mir so dick aufgetragen, wie Sie es an den Lobgesängen Ihres Schwiegersohns auf Deutschland belächeln. »Ich werde nie vergessen, wie die Gnädige Frau und ich mit unserem kleinen Übersetzer an eine Kreuzung gelangten, an der die Fußgängerampel auf Rot schaltete«, wundert sich Großvater auf Seite 140, daß die Franken Verbote grundsätzlich beachten. »Als die Gnädige Frau die Straße überqueren wollte, weil weit und breit kein Auto zu sehen war, hielt sie unser kleiner Übersetzer mit solcher Verzweiflung auf, als würde sie sonst jeden Augenblick überfahren oder verhaftet. Er riß sie am Arm zurück auf den Bürgersteig und rief in seinem gebrochenen Persisch mit dem deutschen Akzent, weil ihm keine angemessenere Formulierung einfiel: ›Verrückte Oma, verrückte Oma!‹« An jenem Tag ignorierte Großvater das Schulterzucken des heutigen Ophthalmologen beziehungsweise Orthopäden und kaufte ihm ein Geschenk.
    Bevor er die Friseure preist, auf die ich irrtümlich vorgegriffen habe, bringt Großvater noch seine Bewunderung für die Verkehrsbetriebe Westfalen-Süd zum Ausdruck. Selbstredend begeisterten ihn die Fahrpläne mit minutengenauen Ankunfts- und -abfahrtszeiten, die sauberen, überdachten Sitzbänke an den Bushaltestellen, die manchmal mit Pflanzenkübeln geschmückt waren, sowie die modernen, gepflegten Busse, die keinen eigenen Fahrscheinverkäufer benötigten, weil die Fahrgäste, die kein Monatsticket besaßen, den Fahrschein direkt beim Fahrer kauften. Die übrigen Fahrgäste stiegen hinten ein, ohne daß jemand ihre Monatstickets kontrolliert hätte. Das heißt, das gesamte öffentliche Verkehrswesen der Franken beruhte auf dem Vertrauen, daß sich die Menschen entgegenbrachten. Wenn ihr eigenes Gewissen Kontrolle genug war – wofür braucht es dann noch eine Religion, die die Gläubigen gerade nicht dazu bringt, sich für ihr Handeln zu rechtfertigen, wenn niemand hinsieht? Wozu braucht es Gott, wenn Er nicht hinsieht? Und überhaupt eine so einfache und doch geniale Einrichtung wie Monatstickets! Sie gefielen Großvater mindestens so gut wie die Knirpse. Am meisten schätzte Großvater freilich wieder die Höflichkeit und den Respekt vor den Älteren, die in den Bussen üblich waren, egal ob man sich kannte oder nicht. Ihm selbst reichte immer wieder ein Franke beim Einstieg die Hand oder überließ ihm seinen Sitz. Nun hätten seine gebeugte Gestalt und der weiße Bart wahrscheinlich die hartherzigsten Menschen erweicht, dennoch möchte er allen Bewohnern der deutschen Stadt Siegen und besonders den Busreisenden der Verkehrsbetriebe Westfalen-Süd, die ihm während seines Aufenthaltes eine Freundlichkeit erwiesen haben, an dieser Stelle seinen ausdrücklichen Dank aussprechen, auch wenn keinen von ihnen je diese Flaschenpost erreichen wird. Vielleicht doch: Wenn Ihrer hochgeschätzten Aufmerksamkeit eine Erinnerung an einen älteren, kleinen und sehr rundlichen Orientalen mit Hut, Bart und Mantel zuteil wird, der 1963 täglich mit dem Bus durch Siegen fuhr, bitte ich Sie, mir die Ehre einer Belehrung zu erweisen, solange ich noch in den Fesseln der irdischen Existenz stecke. »Was soll ich tun?« fragt Großvater. Der Leser werde ihn für hoffnungslos gharbzadeh halten, »vom Westen befallen« oder »vom Westen infiziert«, wie der berühmte persische Ausdruck für die blinde Anbetung des Westens lautet, das zum Fanal für die autochthone Revolution von 1979 wurde. Aber blind wäre er, wenn er die

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