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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Beiträge der religiösen Führer zu Tisch, von denen keiner die Länge eines Wortes zum Freitag, Samstag oder Sonntag unterbot, war auch der deutsche Islam endlich an die Reihe gekommen und hatte seine Redezeit für den Hinweis auf Jonas und die Flüchtlinge in den heiligen Schriften genutzt, auf Maria, Josef und das Jesuskind, auf Moses und Mohammad, deren Geschichten nicht einer fernen Vergangenheit angehörten, sondern jetzt stattfänden, in diesem Augenblick, da die religiösen und politischen Führer Europas beim Mittagessen an die Menschenwürde appellierten. Der Kommissionspräsident war über die Abwechslung, die der Furor des deutschen Islam in die Worte zum Freitag, Samstag oder Sonntag brachte, offenbar so sehr erfreut, daß er auf der Pressekonferenz die zehn- bis fünfzehntausend Toten, die »in den letzten Jahren« vor Gibraltar ertrunken seien, in zehn- bis fünfzehntausend Tote »im letzten Jahr« verwandelte, während der deutsche Islam schon von der Bühne abtrat, um rechtzeitig für die Gutenachtgeschichte der Älteren und das Gutenachtlied der Frühgeborenen zurück in Köln zu sein. Allein, wo war die Assistentin des Kommissionspräsidenten mit dem Rucksack? Auch die Bundeskanzlerin zeigte sich ebenso besorgt wie betroffen von den täglichen Flüchtlingstragödien im Mittelmeer, ohne sich mit der Frage aufzuhalten, wer daran schuld sei, wenn nicht diejenigen, die sich die Bekämpfung der Flüchtlinge wörtlich auf die Fahnen geschrieben haben. Daß die Flüchtlingsfrage das Topthema des Treffens mit den religiösen Führern Europas gewesen sei, wie die europäische Presse anderntags berichtete, hätte mit Blick auf die heiligen Schriften durchaus nahegelegen; in Wirklichkeit war es einfach so, daß die anderen neunundzwanzig Worte über die Menschenwürde, die jüdisch um die Klage über den Antisemitismus, muslimisch um die Klage über die Islamophobie und christlich um die Klage über den Verlust christlicher Identität erweitert worden waren, sich kaum zu einem Gesprächsergebnis zusammenfassen ließen – wie auch, wenn gar kein Gespräch stattgefunden hatte? Nur die Frage nach der Verantwortung stellte auch die europäische Presse nicht – als ob Gott die Kriegsschiffe aussendet, um die Flüchtlinge abzuwehren. Vielleicht tut er es, vielleicht liegt die Verantwortung bei Gott und nicht oder nicht nur bei den Führern auf Erden, schließlich stand sogar in dem Brief, der »im ansonsten leeren, mit aufgeweichtem Brot etc. angefülltem Boot« lag, zwar mehrfach, daß Gott gnädig und barmherzig sei, aber eben auch Herrscher über Himmel und Erde. Endlich entdeckte der deutsche Islam die Assistentin mit dem Rucksack: mitten unter den mitschreibenden Journalisten. Als er die Treppe zum Parkett hinabstieg und sich in der vollbesetzten sechsten Reihe an der europäischen Presse vorbei zur übrigens sehr hübschen Assistentin des Kommissionspräsidenten durchschlängelte, um sie tuschelnd um den Rucksack zu bitten, spürte er die irritierten Blicke sowohl der politischen als auch der religiösen Führer Europas im Rücken, die den deutschen Islam für einen Schürzenjäger halten mußten. Rasch noch den Regenmantel aus der VIP -Lounge unterm Arm geklemmt, und ab mit der Limousine zum Bahnhof. Im Zug bemerkte er, daß er den Mantel des französischen Judentums mitgenommen hatte. Nein, bestimmt wird der deutsche Islam nie mehr zu einem Gipfeltreffen eingeladen. Und wenn doch, wird er seine Kündigung als Vertreter einreichen. Mit Büchern und gottgefälliger Lebensführung wird er dem Erbe seines Großvaters gerechter als mit öffentlichen Posen.
    Der pensionierte stellvertretende Direktor der Nationalbank in Isfahan sitzt auf dem Teppich, auf dem er so oft den spirituellen Weisungen gefolgt ist, und hört seinen Bekannten zu, die erregt auf Pir Arbab einreden. Manchmal schüttelt der Pir entgeistert den Kopf, manchmal nickt er, gelegentlich murmelt er etwas in seinen weißen Bart, aber nur einmal so deutlich, daß der Pensionär die Worte versteht: »Wer Gott mit dem Licht des Glaubens sucht, gleicht jemandem, der die Sonne mit dem Licht der Sterne sucht.« Daß es sich dabei um einen Satz des Mystikers Halladsch handelt und was er bedeutet, wird dem Pensionär erst Jahre später aufgehen. Jeder seiner Bekannten

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