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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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die die Taliban verhängten: die Anzahl der Gefängnistage fürs Musikhören, die Anzahl der Peitschenhiebe für den fehlenden Bart, die Anzahl der Hinrichtungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr. Später fragt der Berichterstatter den Protokollanten nach dem Loch im Schaufenster, das notdürftig mit Plastik überklebt ist. Vor ein paar Tagen ist jemand eingebrochen, sagt der Protokollant. Unter den Taliban konnte er nachts den Laden offenstehen lassen, da wäre nie etwas gestohlen worden. Jetzt gibt es nicht einmal jemanden, bei dem er eine Anzeige erstatten könnte. – Und die Polizei? Da fängt die Runde wieder an zu kichern.
    Seit fünf Stunden wartet der Berichterstatter auf das Flugzeug. Vielleicht fliegt es um 12:30 Uhr ab, vielleicht später. Vielleicht heute, vielleicht morgen. »Man hat keine Eile, ein solches Land zu verlassen«, schrieb Nicolas Bouvier: Berechnete der Berichterstatter in Köln die Minute, die er später am Flughafen sein könnte, um den Flug gerade noch zu erreichen, vergeht mit dem Nordatlantikpakt die Zeit im Flug und steht sie gleichzeitig still. Unter normalen Umständen müßte der Berichterstatter die Reise verlängern. Aus dem Panzer hat er häufig genug geblickt; zu selten war der Blick auf den Panzer, deshalb der Entschluß des Photographen, in Kabul zu bleiben und über Peschawar auszureisen wie Afghanen. Die Umstände des Berichterstatters sind nicht normal, die Frau im vierten Monat. Doch, man hat Eile.
    Seit dem Morgen sitzt er an dem kleinen, quadratischen Tisch, den der Befehlshaber des Luftgeschwaders Termez für Besprechungen in seinem Büro nutzt, und sieht die Aufzeichnungen der Reise durch, ergänzt hier und dort etwas anhand seiner Erinnerungen und der Archivmappe, nicht viel, weil er den Gestus nicht simulieren kann, nicht viel mehr als Politur. Vorhin hatte er den Eindruck, an diesem Ort, dem Luftgeschwader Termez unweit der afghanisch-usbekischen Grenze, in diesem schmucklosen Büro mit PVC -Boden, an diesem kleinen quadratischen Eisentisch mit furnierter Platte und aufgeklebter Inventarnummer verstanden zu haben, was er dem Präsidenten antworten müßte. Nicht, daß er sich auf der Reise Gedanken gemacht hätte, nicht, weil auf fünfhundert mal fünfhundert Metern alles deutsch ist, wirklich alles, das Essen, die Gegenstände, die Menschen, die Schriftzüge, die Verordnungen, die Sanitätswagen, die Zelte, der Kiosk, die Piktogramme, das Fernsehen, die Eckkneipe, das Bier, die Mülltonnen, sogar das Wetter, alles bis auf die Bäume und die Putzfrauen. Nein, gerade gab es eine Situation, in der ihm aufging, wie nah ihm Deutschland geworden ist mit seinen Mülltrennungsprinzipien selbst im der afghanisch-usbekischen Grenzgebiet und den Pflichtsätzen über die Innere Führung, in der ihm aufging, daß er dem Deutschland gern angehört, dem Haffner die Treue hielt, indem er es verließ. Es ist kein Fleck auf der Landkarte. Es ist ein geistiges Gebilde mit spezifischen Zügen: »Humanität gehörte dazu, Offenheit nach allen Seiten, grüblerische Gründlichkeit des Denkens, ein Niezufriedensein mit der Welt und mit sich selbst, Mut, immer wieder zu versuchen und zu verwerfen, Selbstkritik, Wahrheitsliebe, Objektivität, Ungenügsamkeit, Unbedingtheit, Vielgestaltigkeit, eine gewisse Schwerfälligkeit, aber auch eine Lust zur freiesten Improvisation, Langsamkeit und Ernst, aber ebenso ein spielerischer Reichtum des Produzierens, der immer neue Formen aus sich herauswarf und als ungültige Versuche wieder zurückzog, Respekt für alles Eigenwillige und Eigenartige, Gutmütigkeit, Großzügigkeit, Sentimentalität, Musikalität, und vor allem eine große Freiheit: etwas Schweifendes und Unbegrenztes. Heimlich waren wir stolz darauf, daß unser Land, geistig, ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten war.« Gewiß ist die Bundesrepublik nicht identisch mit dem Deutschland, das Haffner im Herzen trug. Schon gar nicht ist es die Bundeswehr. Aber es spricht für das Land, daß es sich in seiner kollektiven Erinnerung lieber mit dem Deutschland Haffners identifiziert als mit dem Deutschen Reich. Die iranische Armee hat kein Pflichtprogramm wie die Innere Führung, sondern Tod Amerika, Tod Israel, Tod den Heuchlern. Es spricht für die Bundeswehr, daß die Reise dem Presseoffizier die Sprache verschlagen hat. Ein Hoch

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