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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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auf die Soldaten, die vor einem Trupp turnschuhbesohlter Taliban Reißaus nähmen. Die schlachthungrigen Intellektuellen des Ersten Weltkriegs sind beinah vollständig vergessen, und wer von den großen Dichtern das Vaterland hochleben ließ, hat sich bereits in den zwanziger Jahren um so vehementer gegen die nationale Selbstüberhöhung ausgesprochen. Gottfried Benn oder Martin Heidegger mögen gelesen oder geliebt werden; aber mit Straßennamen oder Gedenkpreisen geehrt werden jene Deutschen, die sich dem Nationalismus widersetzten, wenn nicht zum Opfer fielen. Heute würde es niemand mehr öffentlich wagen, Sebastian Haffner die Flucht aus Deutschland vorzuwerfen, und befindet sich das Bundeskanzleramt in der Willy-Brandt-Allee 1. Hätte Haffner sich im Londoner Exil je träumen lassen, daß die Straße, in der Deutschland einmal regiert wird, nach einem deutschen Emigranten benannt ist? Der Befehlshaber des Luftgeschwaders Termez und der Berichterstatter aus Köln tippten gleichzeitig in ihre Computer. Ohne sich umzudrehen, fragte der Befehlshaber, wie man Expertise schreibt, mit ie oder mit i. – Mit i, antwortete der Berichterstatter, ohne aufzuschauen. Das war’s, beide schrieben sie weiter. Ein hoher deutscher Offizier befragt ihn – als wäre es das Natürlichste der Welt, schließlich ist dieser der Schriftsteller, der Berichterstatter der führenden Zeitung, der Profi –, befragt ihn, Sohn iranischer Einwanderer, zur deutschen Rechtschreibung. In der Gewöhnlichkeit dieser zwei Sekunden währenden Unterhaltung liegen die fünfzig Jahre, seit die Eltern in Deutschland eingewandert sind. Die Hymnen muß der Berichterstatter deswegen nicht lieben. Es ist 14:27 Uhr usbekische Zeit, der 2. Dezember 2006. In anderthalb Stunden soll er bereit stehen zum Einsteigen, genug Zeit, um den polnischen Presseoffizier wenigstens einmal im Tischfußball zu besiegen: Ab heute wird zurückgeschossen.
    Die Aufnahmen von der Brust zeigen eine deutliche Veränderung. – Das ist gut, oder? fragt der Freund aus Köln bei der Zwischenlandung in Leipzig. – Das ist gut, antwortet der Bildhauer in München.
    Daß in der ersten arbeitslosen Stunde, Sonntag vormittag während der Fahrt ins Bergische Land, der immer gleiche Nerv rechts neben dem Brustwirbel Alarm schlug, hatte die Frau vorausgesagt. Immer ist es so: Alles macht der Rücken mit, Schutzwesten, Feldbetten, Fußböden, Kälte, Wartesäle, Zugluft, kein Sport, aber wenn er endlich frei hat, legt er den Verkehr vor Freude lahm. An der nächsten Autobahnabfahrt kehrtgemacht, entließ das Opiat ihn zu Hause in den Schlaf. Der Fahrt nach Mainz, wo er dem Fernsehen am nächsten Montag wieder eine von den Meinungen verkaufte, die mehr einbringen als die vierseitige Reportage in der führenden Zeitung, hielt der Rücken wieder stand. Noch hätte der Handlungsreisende umkehren können, und alles wäre gewesen wie immer. So jedoch stürzte er auf offener Bühne so tief in die Verzweiflung, die sich in Afghanistan angestaut hatte, daß es sogar das Publikum bemerkt haben müßte. Nur sein Körper blieb auf der Bühne, nicht einmal sein Mundwerk gehorchte noch. Wie er zurück ins Hotel fand, kann er nur vage rekonstruieren. Als er am nächsten Morgen um sechs Uhr, weil er immer noch nicht einschlafen konnte, im Sportkanal die Wiederholung des Zweitligaspiels sah, wurde ihm von Gegentor zu Gegentor offenbarer, wie unhaltbar das Leben ist und damit seins. »I got to get away from this state of running around / Every body knows this is nowhere«, singt Neil Young im Mitschnitt des Konzerts mit Crazy Horse in Fillmore East von 1970, die erste Veröffentlichung aus seinem sagenumwobenen Archiv. Der Abend war ja nicht anders als sonst gewesen, die Schriftstellerkollegen freundlich, der Moderator albern, die Zuhörer geduldig, auch das Gespräch am Morgen danach im Verlag nichts, worüber er sich beklagen könnte, nichts außer der Welt. Als er mit drei Stunden Verspätung, mit der die Fluggesellschaft seine Eingewöhnung erleichterte, in Köln eintraf, spielte er mit der Tochter das Spiel, das er ihr, statt aus Afghanistan, wo es keine Spiele zu kaufen gibt, aus dem größten Fachgeschäft Zürichs mitgebracht hatte (es allein hat mehr Lichter als Kabul am Abend), ging joggen, aß mit der Familie zu Abend, beantwortete neben der

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