Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
nicht.«
Ruiz hat die Vorhänge offen gelassen. Durchs Fenster sehe
ich Jogger an der Themse entlanglaufen und höre, wie sich die Möwen um Leckerbissen im Schlick zanken.
Ruiz gibt mir den Bericht des Seenotrettungsdienstes, der die Namen der Toten, Vermissten und Überlebenden auflistet. Eine offizielle Passagierliste gab es nicht. Die Fähre verkehrte regelmäßig zwischen den Inseln und wurde von Touristen und Einheimischen benutzt, die häufig einfach irgendwo an und wieder von Bord gingen und ihre Überfahrt erst auf dem Schiff selbst bezahlten. Helen und Chloe haben aller Wahrscheinlichkeit nach bar bezahlt, um nicht durch den Einsatz einer Kreditkarte eine Spur zu hinterlassen.
Bryan Chambers hat gesagt, dass er seiner Tochter zum letzten Mal am 16. Juni telegrafisch Geld von einem Konto auf der Isle of Man an eine Bank auf Patmos angewiesen hat.
Welche anderen Beweise haben wir dafür, dass Helen und Chloe an Bord der Argo Hellas waren? Ihr Gepäck wurde drei Meilen östlich der Stadt an den Strand gespült. Ein großer Koffer. Ein einheimisches Fischerboot hat eine kleinere Tasche aus dem Wasser gefischt, die Chloe gehörte.
Ruiz zieht ein gebundenes Buch hervor, dessen Einband mit einer aus Zeitschriften ausgeschnittenen Collage von Bildern verziert ist. Die Pappe ist vom Wasser aufgequollen, das Namensschild unleserlich.
»Das war bei den persönlichen Sachen. Es ist Chloes Tagebuch.«
»Wie bist du darangekommen?«
»Ich habe ein paar höfliche Lügen erzählt. Ich solle es der Familie überstellen.«
Ich schlage das Buch auf und streiche über die vom getrockneten Salz gewellten Seiten. Es ist eher ein Skizzenblock als ein regelmäßig geführtes Tagebuch. Es enthält Postkarten, Fotos, Ticketabschnitte und Zeichnungen, hin und wieder auch einen Eintrag oder eine Beobachtung. Chloe hat zwischen den Seiten Mohnblumen gepresst. Man kann erkennen, wo Staub- und Blütenblätter die Seiten verfärbt haben.
Die brüchigen Seiten dokumentieren die Reise von Mutter und Tochter - vor allem über die Inseln. Hin und wieder werden andere Menschen erwähnt: ein türkisches Mädchen, mit dem Chloe sich angefreundet hat, sowie ein Junge, der ihr beigebracht hat, wie man Fische fängt.
Die Flucht aus Deutschland wird nicht erwähnt, aber Chloe schreibt über den Arzt in Italien, der ihren Arm eingegipst hat. Er hat als Erster darauf unterschrieben und daneben ein Bild von Pu dem Bären gemalt.
Mithilfe der Postkarten und der erwähnten Ortschaften kann ich Helens Route rekonstruieren. Sie muss den Wagen verkauft oder irgendwo stehen gelassen haben, bevor sie einen Bus über die Berge nach Jugoslawien und weiter nach Griechenland nahmen.
Tage bleiben unbelegt. Wochen verschwinden. Mutter und Tochter bewegten sich immer weiter fort von Deutschland, überquerten die Grenze zur Türkei und folgten der Küste. Auf einem Campingplatz in Fethiye am Rand der Ägäis kam ihre Reise schließlich zu einem vorläufigen Ende. Chloes Arm verheilte nicht richtig. Sie wurde ein weiteres Mal in einem Krankenhaus untersucht und noch einmal geröntgt. Helen schrieb eine Postkarte an ihren Vater und malte ein Bild von ihm. Die Karte wurde offensichtlich nie abgeschickt.
Chloe macht den Eindruck eines intelligenten, unbeschwerten Mädchens, das ihre Schulfreundinnen in Deutschland und ihre Katze Tinkerbell vermisst, die von allen nur »Tinkle« gerufen wurde, weil so das Glöckchen um ihren Hals bimmelte, wenn sie versuchte, im Garten Vögel zu jagen.
Der letzte Eintrag stammt vom 22. Juli, zwei Tage vor dem Untergang der Argo Hellas . Chloe freute sich auf ihren Geburtstag. In gut zwei Wochen wäre sie sieben geworden.
Als ich die letzten Seiten noch einmal rückwärts durchgehe, spüre ich, dass Helen und Chloe endlich angefangen hatten, sich zu entspannen. Auf Patmos blieben sie länger als an irgendeinem anderen Ort in den letzten zwei Monaten.
Ich schließe Chloes Tagebuch und streiche über die Collage auf dem Einband.
Wenn man etwas zu angestrengt betrachtet, wird man manchmal regelrecht blind, weil das Bild sich in unser Unterbewusstes eingebrannt hat und unverändert bleibt, selbst wenn etwas Neues geschieht, das unsere Aufmerksamkeit wecken sollte. Genauso kann der Wunsch, Dinge zu vereinfachen oder eine Situation als Ganzes zu sehen, uns dazu verleiten, nicht passende Details außer Acht zu lassen, anstatt sie zu erklären.
»War bei den Sachen, die geschickt wurden, auch ein Foto von Helen Chambers?«,
Weitere Kostenlose Bücher