Deiner Seele Grab: Kommissar Dühnforts sechster Fall (Ein Kommissar-Dühnfort-Krimi) (German Edition)
Früher waren es Porträts gewesen. Sehr eigenwillige. Denn sie besaß die Fähigkeit, hinter Fassaden zu blicken, zu erspüren, was den Menschen ausmachte, den sie vor sich hatte, und sie hatte die Gabe, das auf Leinwand zu bannen. Es brauchte Mut, sich ihrem Blick zu stellen, denn nicht selten entsprachen sich Selbstbild und Porträt nicht. Im Lauf der Jahre hatte Rita das Interesse an dieser Art von Menschenerkundungen verloren und sich der Natur zugewandt, deren gewalttätige Seite sie faszinierte und die sie in gigantischen Formaten umsetzte.
Das Geschick, mehr zu erspüren, als das Gegenüber von sich preisgeben wollte, und die Faszination, die von Gewalt ausgehen konnte, hatte er wohl von seiner Mutter mitbekommen. Ein unerwarteter und schöner Gedanke.
Mit leisem Quietschen rollte der ICE vor dem Prellbock aus. Die Türen öffneten sich. Im Handumdrehen füllte sich der Bahnsteig mit Menschen. Es dauerte eine Weile, bis er sie entdeckte. Weißer Pagenkopf. Tiefroter Lippenstift. Sie war einen Kopf kleiner als Georges, der neben ihr ging. Er schien weniger geworden zu sein, dünner, gebeugter. Die gesundheitlichen Probleme waren offenbar größer, als Rita sie dargestellt hatte. Der einst stattliche Mann wirkte wie eingesunken. »Hallo Mutter, hallo Georges.«
»Tino, Junge. Schön, dich zu sehen.«
Sie umarmten sich, tauschten Küsschen rechts und links auf die Wangen. Er stellte Gina vor. Rita musterte sie wohlwollend. »Viel hat er ja von dir noch nicht erzählt. Schön, dass wir uns kennenlernen.« So extrovertiert Rita war, so introvertiert war Georges. Er nickte Gina freundlich zu.
Dühnfort nahm die Griffe der beiden Rollkoffer. Seine Mutter hatte etwas an sich, das Aufmerksamkeit erweckte. Es war nicht nur ihre Kleidung, die wie immer extravagant und schwarz war. Heute eine weite Hose und eine kurze kastenförmige Jacke, dazu ein kunterbunter Seidenschal. Es war ihre Lebendigkeit. Sie sprühte Funken, hatte Charisma. Auch jetzt, während sie lebhaft von der Fahrt berichtete, bemerkte er, wie sie gemustert wurde. Mal verstohlen, mal offen und neugierig. Ein älterer Herr neben ihnen stupste seine Begleiterin an. Ist das nicht die Künstlerin, die wir neulich in Arte gesehen haben?
Während sie zum Parkplatz gingen, erzählte Rita von der bevorstehenden Ausstellung, die sie gemeinsam mit ihrem neuen Galeristen plante. Georges war still. Das war er meistens. Wer daraus schloss, dass er unter Ritas Pantoffel stand, irrte. Er war ebenso durchsetzungsstark wie sie, was mit schöner Regelmäßigkeit zu hitzigen Debatten führte, dem Salz in ihrer Lebenssuppe. So nannte seine Mutter das.
Im Wagen bestand sie darauf, dass er und Gina abends zum Essen kamen. »Ich habe es schon organisiert. Um sieben liefert Käfer alles, was wir brauchen.«
Dühnfort stoppte an einer Ampel. Sein Blick fiel auf einen Zeitungskiosk. Die Schlagzeilen galten einem Bankenskandal. Bis jetzt hatte der Samariter sich nicht wieder gemeldet. Keine Mail, kein Foto des toten Heinrich Brettschneider, kein neuer Eintrag in seinem Blog.
43
Um Viertel vor sechs klingelte es an der Wohnungstür. Clara ließ Franzi ein. Sie umarmten sich. »Gut siehst du aus.«
»Findest du? Ist das nicht zu salopp?« Claras Outfit bestand aus Jeans und einem petrolfarbenen Kaschmirpulli, der aus besseren Zeiten stammte. Die Farbe passte gut zu ihren Augen.
»Für ein Essen im Monsoon ist das absolut okay.«
Sie hatte ohnehin keine Zeit mehr, sich noch einmal umzuziehen, und auch keine echte Alternative im Schrank. Um sechs traf sie sich mit Thore Derr zu einem Aperitif im OskarMaria. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen.
»Zwischen halb sieben und sieben kommt jemand vom Pflegedienst und gibt Paps die Medikamente. Abendessen habe ich vorbereitet. Es steht im Kühlschrank. Krystyna ist spätestens um zehn wieder da und löst dich ab.« Sie griff nach dem Trenchcoat, der vor Jahren richtig viel Geld gekostet hatte, eine Investition, die sich langsam auszuzahlen begann, und verabschiedete sich von Franzi und Paps, der fragte, ob Clara zur Tanzstunde wollte. Daran erinnerte er sich. Es war mehr als ihr halbes Leben her.
Der Wind war frostig. Dennoch ging sie zu Fuß. Es würde ihr guttun, den Kopf ein wenig auszulüften. Als sie den Marienplatz erreichte, setzte Schneeregen ein. Clara beschloss, doch die U-Bahn zu nehmen. Auf dem Treppenabsatz zum Zwischengeschoss lag eine aufgeweichte Zeitung mit dem Bild der toten Frau. Es erschien Clara für
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