Delhi Love Story
flüchtige Begegnungen auf der Terrasse. Ich hatte nicht bemerkt, dass diese scheinbar zufälligen Begegnungen etwas bedeuteten und dass in dem humorvollen Geplänkel der beiden der Keim nächtlicher Ferngespräche angelegt war. Mir fällt jetzt wieder ein, dass er neulich vorbeikam und Ma lächelnd einen Strauß Lilien überreichte. Und dass sie die Blumen mit einem Lächeln entgegennahm.
Ich richte mich auf. Ma und JD?
Nein! Ich vergrabe meinen Kopf in den Kissen und versuche, nicht daran zu denken. Das ist doch völlig verrückt. Zwei Menschen telefonieren und ich ziehe gleich irgendwelche Schlüsse daraus. Die beiden sind sicher einfach nur Freunde. Freunde, Nachbarn, Geschäftspartner, die voneinander unabhängige Leben führen und von Zeit zu Zeit telefonieren.
Trotzdem …
Letzte Woche war er vorbeigekommen, als gerade die Vermas zum Essen hier waren. Er kam einfach so zu uns herüber, in verwaschenen Jeans und Rollkragenpulli.
Aus Paris hatte er eine Flasche Chablis für Ma mitgebracht. Ma war ganz begeistert – das sei ihr Lieblingswein und woher er das gewusst habe –, und JD lächelte und gab Onkel Sunny die Hand. Er ließ sich auffällig gern überreden, zum Kaffee zu bleiben. Und als Ma ihn Tante Tara mit den Worten vorstellte, er sei unser schüchterner, zurückgezogener Nachbar, lächelte er und sagte, das stimme nicht – er sei unser glücklicher Nachbar. Zu diesem Zeitpunkt war mir die Bemerkung nicht seltsam vorgekommen. Aber jetzt …
Durch die geschlossene Tür höre ich wieder ihr Lachen. Ich vergrabe meinen Kopf tiefer im Kissen. Bitte, Ma, leg auf. Lach nicht über seine Witze.
Ich zwinge mich, aufzustehen, und ziehe die Vorhänge zurück. So ist es schon viel besser: In der Dämmerung kann ich den Baum sehen und den Mond. Die Vorhänge bewegen sich sanft in der Brise. Jetzt, Ende September, ist die Luft feucht und warm; es riecht leicht nach Moschus.
Papa benutzte fast nie Parfum. Seine Kleidung roch immer nach draußen: nach Pinienblättern, Zedern und Wald. Wenn wir wandern gingen, gab er mir seine blaue Windjacke. Sie war so groß wie ein Zelt und roch warm nach Papa. Ich schließe die Augen. Zwei Jahre und zehn Monate. Trotzdem kommt es mir vor, als hätte ich eben noch seine Windjacke getragen und in Fort Snelling Herbstlaub gesammelt, als wären Ma und Papa dicht hinter mir gegangen, seine Hand auf ihrer schmalen Schulter.
Sie ist überarbeitet und einsam. Das muss der Grund sein. Sie war schon lange nicht mehr abends weg. Sie hat sich lange nichts Schickes zum Anziehen gekauft. Ich sollte morgen mit ihr einkaufen gehen. Genau. Schuhe kaufen und danach nett essen gehen.
»Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass du hier im Dunkeln sitzt und auf deinem Stift herumkaust? Und auch noch falsch herum?«
Ich erschrecke, ich hatte Keds nicht bemerkt. Ich nehme den Stift aus dem Mund. Tintengeschmack bleibt auf der Zunge zurück. Keds schaltet die Nachttischlampe ein und schiebt einen Stapel Bücher vom Bett. Dann setzt er sich, hebt einen Radiergummi vom Boden auf und wirft ihn immer wieder hoch. Zum zweiten Mal schon bin ich erstaunt darüber, mit welcher Leichtigkeit er mein Zimmer ausfüllt, wie er sich den nutzlosen Raum aneignet und zum Leben erweckt.
»Seit wann bist du hier?«, frage ich.
»Ich bin eben gekommen.«
»Hat Ma noch telefoniert?«
»Tante Isha? Ich glaube nicht. Wieso, was ist los?«
»Nichts.« Er trägt noch seine Schuluniform, sein vollgestopfter Rucksack liegt auf dem Boden. »Was willst du hier?«, frage ich ihn.
»Was war heute mit dir los?«
»Was meinst du?«
»Du warst nicht in der Schule.«
»Oh. Ich war krank.«
»Ja, du siehst wirklich krank aus.«
Ich trete gegen seinen Fuß.
»Wenn du das nächste Mal die Schule schwänzen willst, lass es mich wissen«, sagt er.
»Wieso?«
»Damit ich auch schwänzen kann.«
»Aha. Und was würden wir machen?«
»Ich weiß nicht. Auf einen Hügel steigen?«
»Alles klar.« Ich stehe auf, gehe hinüber zum Fenster und ziehe die Vorhänge zu. »Diesmal würde ich dich aber nicht retten.«
»Dann lass es eben.«
Er sitzt auf meinem Bett und macht immer kompliziertere Wurfübungen mit dem Radiergummi.
»Es war komisch, den ganzen Tag deinen leeren Stuhl vor mir zu sehen«, sagt er. »Ich habe davon Kopfschmerzen bekommen.«
» Du bist komisch«, antworte ich. »Was habe ich eigentlich verpasst?«
»In der Schule? Das Übliche. Ach ja, Richa und Bobs haben Schluss gemacht.«
»So schnell? Was
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