Delhi Love Story
Frauen vor mir sehen fast aus wie eineiige Zwillinge. Natürlich ist die Mutter älter, etwas kräftiger und grauhaarig. Die Tochter ist – ihrem mit Sindur gefärbtem Scheitel und der Menge ihres Schmucks nach zu urteilen – frisch verheiratet. Sie scheinen sich hervorragend zu verstehen, plaudern, lachen und teilen sich eine Tüte Erdnüsse. Ich bekomme ein paar Gesprächsfetzen mit. Die Mutter spürt meinen Blick und dreht sich zu mir um. Ich fingere wieder an den Knöpfen meiner Bluse herum. Sie lächelt, bietet mir Erdnüsse an. »Möchtest du welche?«
Ich lächle sie freundlich an, schüttele den Kopf.
Sie drückt mir dennoch ein paar in die Hand. Ich schaue aus dem Fenster, breche eine Nussschale auf und spüre, wie Tränen in mir hochsteigen.
Langsam schiebt sich der Bus durch den endlosen Verkehr Delhis. Ich frage mich, ob wahre Liebe sich so anfühlt. Schwindelig, atemlos, ohne Gleichgewicht. Hat man so viel Angst – und fühlt man sich so leer? Sei nicht albern , rede ich mir ein. Er ist ein toller Typ, ich bin verrückt nach ihm und wir lieben uns. Aber wieso fühlt sich das irgendwie falsch an? Wieso überprüfe ich immer wieder die Knöpfe an meiner Bluse, und wieso freue ich
mich schon auf die Dusche zu Hause? Ob Ma sich so gefühlt hat, wenn sie mit Papa zusammen war? Und wie lange? Und wann war sie sich tausendprozentig sicher? Gleich? Ein bisschen später? Oder nie?
Heute Abend rede ich mit ihr, sobald sie nach Hause kommt. Egal, ob Rani da ist und nervt, egal wie viel Arbeit Ma noch erledigen muss: Ich werde es ihr sagen. Immerhin ist es das Normalste überhaupt, dass Mütter und Töchter miteinander reden .
Aber wie soll man mit jemandem reden, der immer das Handy am Ohr und den Laptop auf dem Schoß hat?
Ma kommt erst weit nach dem Abendessen, sie ist wieder einmal zu spät. Sie telefoniert noch, ihr Blick ist konzentriert, sie nimmt ihre Umgebung nicht wahr. In der Hand hält sie noch den Schlüssel, ich nehme ihn ihr ab und lege ihn auf die Kommode. Sie geht in ihr Zimmer, telefoniert weiter.
Ich gehe in die Küche, stelle Dhal und Gemüse in die Mikrowelle, hole einen Teller und einen Löffel. Wahrscheinlich hat sie wieder nicht zu Abend gegessen. Wenn ich ihr etwas vorsetze, wird sie es hoffentlich nicht ablehnen, auch wenn es schon nach zehn Uhr ist.
Ma. Sie ähnelt eher einem Kraftwerk als einer Mutter, sie ist unglaublich gut in ihrem Beruf. In nur vier Monaten hat sie für ihren Arbeitgeber ein halbes Dutzend neue Kunden gewonnen, sie hat drei vor sich hin dümpelnden Marken neues Leben eingehaucht, schreibt regelmäßig Kommentare für Fachmagazine und wird von
einer Wirtschaftszeitschrift nach der anderen porträtiert. Man spekuliert, ob Isha Rai nicht bald ihre eigene Werbeagentur aufmacht. Die Medien lieben sie. Und die Kameras auch. In den Hochglanzmagazinen sieht sie großartig aus, obwohl sie Gewicht verloren hat und ihre Wangenknochen stärker hervortreten. Sie isst nicht genug und schläft kaum – und dennoch genießt sie zweifelsohne ihr Leben. Sie bewegt sich ohne Pause in einer Welt aus Intuition, Ideen, Enthusiasmus und Energie. Es ist eine kalte Welt. Dinge wie Essen, Zuhausesein und Gespräche mit ihrer Teenagertochter können da nicht mithalten. Wie auch?
Vor allem jetzt nicht. Gefolgt von Rani rauscht sie in die Küche und verkündet, sie habe keine Ahnung, wie sie es schaffen solle, sich in weniger als einer Stunde umzuziehen, die Koffer zu packen und aufzubrechen. Wie soll sie bloß den Flug nach Singapur erwischen?
»Singapur?«, frage ich.
»Gott sei Dank habe ich in letzter Minute einen Platz in der Maschine bekommen. Jetzt muss ich nur noch rechtzeitig am Flughafen sein!«
»Aber Ma –«
»Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Ich habe alles unter Kontrolle. Und ich habe mit Tara gesprochen. Sunny ist schon auf dem Weg. Ihr könnt bei ihnen wohnen, bis ich zurück bin.«
»Wie lange wirst du denn weg sein?«
»Drei oder vier Tage … Sonntagabend sollte ich wieder hier sein. Oder Montag, allerspätestens.«
»Fünf Tage!«
»Es geht um einen neuen Kunden, mein Schatz. Ich kann dir noch nichts Genaues verraten, aber –«, sie hält ihre gedrückten Daumen hoch, »wenn ein Vertrag zustande kommt, wird es ein Riesending. Vielleicht eröffnen wir sogar ein Büro in Singapur … Aditya überlegt schon, mich dorthin zu schicken –« Mein entsetzter Blick lässt sie innehalten. »Natürlich werde ich nicht zustimmen.«
Wieso denn nicht, denke ich.
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