Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
so müssen sich die meisten Pressevertreter, darunter allein 50 Kamerateams, damit begnügen, auf den Gängen und vor dem Landgericht in Ulm zu filmen und Dinge zu recherchieren.
Der schlichte Gerichtssaal ist also recht leer. Die Anordnung der Tische gleicht einem »U«. Vorn, an der Stirnseite, sitzen vor der mit hellem Holz vertäfelten Wand links und rechts die zwei Schöffen, in der Mitte die drei Richter. An der linken Wandseite werden Andreas H. und sein Verteidiger Platz nehmen, an dem Tisch vor ihnen Frederik B. und dessen Rechtsanwalt. Auf der rechten Seite des Raumes sitzen die Protokollantin, die Oberstaatsanwältin, der psychiatrische Gutachter, Nebenkläger und zwei Jugendgerichtshelfer.
Erst als Fotografen und Kameraleute den Gerichtssaal verlassen haben, werden die beiden Angeklagten hereingeführt. Zuerst Andreas H. Genau wie sein Freund Frederik ist er an Händen und Füßen gefesselt, links und rechts von ihm läuft je ein Beamter. Nachdem er auf der Anklagebank Platz genommen hat, kommt Frederik. Er hat die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen. Seinen Eltern, die im Gerichtssaal sitzen, wirft er einen verschämten Blick zu. Andreas hatte ihnen sogar zugenickt. Jetzt sucht er Augenkontakt zu seinem Freund, doch der hält den Blick gesenkt, versteckt das Gesicht unter der Kapuze.
An diesem ersten Prozesstag wird die Anklageschrift verlesen. Die beiden Angeklagten folgen dem Geschehen regungslos, die Köpfe haben sie gesenkt, den Blick nach unten gerichtet, Andreas hat die Hände im Schoss verschränkt. Sie werden sich an diesem Tag nicht äußern. Die Anwälte kündigen an, »zu gegebener Zeit« Angaben machen zu wollen, darunter auch »geständige«. Vorerst wollen sie jedoch ein Gutachten eines Sachverständigen abwarten, das für den dritten Verhandlungstag eingeplant ist.
2. Prozesstag: Donnerstag, 15. Oktober 2009
Der 15. Oktober ist ein sehr kalter Tag in Ulm. Nachts lagen die Temperaturen schon im Minusbereich und am heutigen Donnerstag werden sie nicht über vier Grad steigen. Die Sonne lässt sich kaum blicken.
Die neun Pressebeobachter und die Öffentlichkeit erwarten den Tag mit Spannung. Heute soll Frederik befragt werden. Einige Details deuten darauf hin, dass die beiden Angeklagten kaltblütiger vorgegangen sind, als sie es bisher zugegeben haben. Andreas H. soll einem Sozialarbeiter im Gefängnis weitere Einzelheiten erzählt haben. So hätten sie auch die Ermordung von Frederiks Eltern geplant, da diese Frederik mit seinen Problemen allein gelassen hätten. Man habe nur die Ermordung nicht gleich im Anschluss durchführen wollen, da dies mit Sicherheit aufgefallen wäre. Frederik habe außerdem die Hauptrolle bei der Ermordung von Andreas’ Eltern gespielt, er habe auch allein geschossen – im Gegenzug sei Andreas dann für dessen Eltern zuständig gewesen. Er selbst, so berichtet Andreas H., habe es nämlich nicht fertiggebracht, Vater, Mutter und Schwestern zu erschießen.
Frederiks Eltern beteuern gegenüber der Presse, dass ihr Sohn ihnen versichert habe, es sei nie geplant gewesen, auch sie umzubringen. Was sonst hätte er ihnen auch sagen sollen?
Nun also spricht Frederik B. Die Medienvertreter werden ausgeschlossen. Schließlich galt B. zum Zeitpunkt der Diebstähle, die er auch zugibt, noch als Jugendlicher.
Andreas H.s Anwalt äußert sich in einer Verhandlungspause. Die Diebstähle seien aus reiner »Abenteuerlust« geschehen. Das sehe man schon daran, dass Andreas und Frederik Zigaretten stahlen, obwohl sie selbst gar nicht rauchten. Zu den Berichten, auch Frederiks Eltern hätten ermordet werden sollen, sagt er: »Es wird viel spekuliert.« Frederiks Anwalt befindet die Hypothese für »Quatsch«.
Die Geschwister von Andreas H.s Vater und Mutter – drei von ihnen treten im Prozess als Nebenkläger auf – geben unterdessen bekannt, das Erbe im Falle einer Verurteilung anzufechten. Wird jemand wegen Mordes verurteilt, so ist er erbunwürdig. Allerdings muss diese Erbunwürdigkeit von einem Zivilgericht festgestellt werden, und das geschieht nicht automatisch, sondern muss durch einen anderen Erbberechtigten veranlasst werden. Ansonsten bekommt auch ein Mörder seinen Anteil am Erbe. Allein das Haus der Familie H. in Eislingen hat einen Verkehrswert von einigen 100000 Euro. Ein Halbbruder des Ermordeten sagt der Presse: »Es regt mich auf, wenn die Kerle da drin sitzen wie die Lämmle und killen dann vier Stück.«
3. Prozesstag: Mittwoch, 4. November
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