Dem Leben Sinn geben
in der Landschaft eines Gesichts wahrzunehmen und die Stimmung eines Menschen zu erspüren (Louann Brizendine, Das weibliche Gehirn , 2007). Mädchen und Frauen pflegen Freundschaften gerne von Angesicht zu Angesicht ( face to face ), sitzen einander gegenüber, suchen den direkten Blickkontakt und kommunizieren ausgiebig über alle Details der Wirklichkeit, mit besonderem Augenmerk auf Beziehungen und die damit einhergehenden Empfindungen.
Nur Frauen wissen, wie wichtig für Frauen Gespräche über alles Mögliche sind, und so geben sie sich wechselseitig ausreichend Gelegenheit dazu. Männer, die einen emotionalen Resonanzraum bei ihresgleichen vermissen, finden ihn bei Frauen, die ihnen zuhören, Frauen aber in erster Linie bei anderen Frauen, denn Frauen sind eher dazu bereit, einander fürsorglich zu bemuttern und Regeneration zu ermöglichen. Zahlen, Daten, Fakten interessieren sie weniger, weit mehr die Menschen, die dahinter verborgen sind, sowie die Geschichten,in die sie eingebettet oder verstrickt sind, sowie die Schwierigkeiten, die sie bewältigen müssen. Probleme anzusprechen kann bereits die Lösung sein, denn das Reden darüber wirkt befreiend und in vielen Fällen ist dabei tatsächlich eine Lösung zu finden, denn die Freundin hat eine Freundin, die jemanden kennt, der es schon mal mit dieser Lösung versucht und gute Erfahrungen gemacht hat. »Hilfestellung zur Bewältigung des Alltags spielt in allen Beziehungen zwischen Freundinnen eine große Rolle« (Verena Kast, Die beste Freundin , 1995, 32). Für die zyklischen Zeiten, in denen Frauen von Natur aus leben, für die Lebensphasen, die sie durchlaufen, und für die entsprechenden Sichtweisen und Situationen können sie am ehesten beieinander Verständnis finden: »Das versteht nur eine Frau!«
Ist es jedoch immer Freundschaft, wenn von einem guten Freund , einer guten Freundin die Rede ist? Wird der Begriff nicht dermaßen inflationär gebraucht, dass es unmöglich ist, zu all diesen Freunden und Freundinnen wirklich ein vertrautes Verhältnis zu unterhalten? Was ist gemeint, wenn jemand als lieber Freund oder liebe Freundin angesprochen wird? Schwingt da manchmal etwas Bedrohliches mit oder hat »lieb« denselben Stellenwert wie »geliebt«? Handelt es sich immer um einen »wahren« Freund, eine »wahre« Freundin, oder ist das nur so dahingesagt? Und was ist im Unterschied zu den vielen guten und lieben Freunden ein bester Freund , eine beste Freundin ?
Theoretische Überlegungen hierzu können den Einzelnen dazu anregen, sich auf die praktischen Erfahrungen zu besinnen, die er in seinem Leben macht, um sich über seine eigene Auffassung von Freundschaft klarer zu werden und sein Verhalten gegenüber Freunden gegebenenfalls zu verändern. Sehr inspirierend ist dabei immer noch die Nikomachische Ethik (im Folgenden NE) des Aristoteles, dessen Erörterungen überdas Phänomen der Freundschaft sich weitgehend auf moderne Verhältnisse übertragen lassen.
Eine Grundvoraussetzung für das Entstehen von Freundschaft ist selbstredend die Bereitschaft zu ihr, die Haltung , mit der ein Mensch sich für sie öffnet. Wer kein »Freund der Freundschaft« ist, tut sich schwer damit, eine solche Beziehung einzugehen. Ob jemand philophil oder philophob ist, hängt teils von der natürlichen Veranlagung ab, teils von der kulturellen Prägung durch die Umgebung, teils jedoch auch von der individuellen Wahl , die er oder sie trifft. Familiäre Beziehungen, in die Menschen hineingeboren werden, sind eine Angelegenheit der Notwendigkeit, der sie nicht entkommen können. Das Besondere der Freundschaft ist im Unterschied dazu, eine Angelegenheit der freien Wahl sein zu können. Die Wahl kann eine aktive sein, um willentlich auf einen Anderen zuzugehen; sie kann jedoch ebenso gut eine passive sein, um das Näherkommen, aus dem Freundschaft entstehen kann, ohne Zutun einfach geschehen zu lassen.
Unbewusste Emotionen und bewusste Überlegungen sind gleichermaßen daran beteiligt, ausschlaggebend aber ist das Wohlgefallen aneinander: Die angehenden Freunde reagieren auf die Ausstrahlung des jeweils Anderen, sie erscheinen sich wechselseitig interessant, sympathisch, vertrauenswürdig, liebenswert, bewundernswert, sodass der Wunsch aufkommt, sich näher kennenzulernen. Das Entstehen des Wohlgefallens kann eine Sache von Sekundenbruchteilen oder aber der Abschluss eines langen Prozesses sein, an dessen Anfang möglicherweise Gleichgültigkeit oder gar Abneigung
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