Demudis
konntest du es vergessen? Gestern bei Ellikint!«, ereiferte sich Bruder Hermann. Doch dann legte er Wilhelm den Arm um die Schultern und sagte sehr leise in sein Ohr: »Eine ganz große Sache. Du wirst schon sehen. Alles wird gut, alles wird sich zum Besten wenden.«
Wilhelm begnügte sich damit, wie immer. Er folgte Bruder Hermann sowieso auf Schritt und Tritt. Er hatte doch niemanden sonst, der sich um ihn kümmerte! Es ist, als wäre ich noch ein Kind, dachte Wilhelm.
»Komm mit«, forderte Bruder Hermann ihn auf. »Uns verbleibt etwas Zeit. Wir wollen uns an der unvergleichlichen Weisheit des Meisters laben.«
Sie trafen Meister Eckhart in der Bibliothek an. Er saß dort vertieft in einem großen Werk lesend. Sein welliges Haar war lang, sehr dünn und schlohweiß. Es ging über in einen ebenso weißen und ebenso langen Bart. Wie aus einem Wollknäuel schaute eine hohe zerfurchte Stirn heraus. Die Augen waren fast geschlossen. Wilhelm fragte sich, wie der Meister so überhaupt zu lesen vermochte. Den linken aus seiner Kutte stakenden, knochigen Arm hatte er auf die Lehne seines schweren, mit kostbarem Leder bezogenen Stuhls gestützt. Die Hand hielt den Kopf, während die Rechte das Buch umklammerte. Fast fünf Jahre weilte der Meister jetzt unter ihnen. Er war aus Straßburg gekommen, wo er den Beginen gepredigt hatte, unglaublicherweise auf Diutisch, weil sie, wie er sagte, als Laien des Lateins, der Sprache des Herrn, nicht mächtig waren. Als Generalvikar war er der Stellvertreter ihres Ordensgenerals gewesen, aber die Neider streuten das Gerücht, die Beginen hätten ihn zur Ketzerei verführt. Er musste Straßburg verlassen und verlor seinen Posten. Wie glücklich sich das gefügt hatte, dachte Wilhelm, so konnten wir in den Genuss seiner Anwesenheit kommen, denn Abt Norbert holte ihn, damit er hier in Köln das Studium beaufsichtigen möge. Doch auch hier ließ man nicht ab von ihm. Wilhelm hatte gehört, Erzbischof Heinrich, dessen Feindschaft den Beginen gegenüber die ganze Kirche der Stadt entzweite, würde die Inquisition gegen ihn hetzen. Nicht auszudenken, was geschehen könnte! Würde der Meister verbrannt wie die ersten Märtyrer des Herrn Jesus Christus, dachte Wilhelm, so müsste auch ich verbrennen.
Bei der Ankunft der beiden Brüder hatte der Meister kaum aufgemerkt.
Bruder Hermann zog sich einen niedrigen dreibeinigen Schemel heran und setzte sich dicht dem Meister gegenüber. Wilhelm blieb notgedrungen stehen.
»Verehrter Meister«, unterbrach Bruder Hermann frech und beugte sich vor. Wilhelm sah, wie der Schemel zu kippen drohte, aber Bruder Hermann fing sich rechtzeitig ab. Er führte seine Handflächen zusammen, versenkte sie in der Kutte zwischen den Beinen und rieb sie ein wenig, vermutlich um sie zu wärmen. »Ich habe da eine Frage.«
Meister Eckhart klappte sehr langsam das Buch zu, ließ es auf seinen Knien liegen und schaute Bruder Hermann in die Augen. Er nahm seinen linken Arm von der Lehne und legte die Hand auf Bruder Hermanns rechten Unterarm.
»Mein Sohn«, sagte er. Wilhelm kannte niemanden, der eine solch begütigende Stimme besaß. »Dies ist das Buch des Philosophen über die Seele. Es ist ein sehr, sehr weises Buch. Und es ist wahrlich Aristoteles nicht vorzuwerfen, dass er nicht getauft ist, denn der neue Bund mit unserem Herrn Jesus ward noch nicht geschlossen zu der Zeit, als er dies geschrieben hat.«
»Meine Frage«, erinnerte Bruder Hermann ungeduldig und betonte unverschämt das »meine«. »In der Disputatio neulich wart Ihr aufgefordert worden zu erläutern, warum Gott die Welt nicht früher erschaffen habe. Ihr aber habt dagegen gehalten, die Welt sei von Ewigkeit her gewesen. Wie kann sie da geschaffen worden sein?«
Wilhelm erinnerte sich, dass er nach der Disputatio dies zu Bruder Hermann gesagt hatte. Er stiehlt mir meine Frage!, empörte er sich innerlich. Aber warum stellt er sie jetzt und nicht in einer neuerlichen Disputatio?
Meister Eckhart räusperte sich. »Ich sage dir: Nichts kann wirken, bevor es da ist. Also kann die Welt nicht erschaffen worden sein, bevor Gott da war. Weiter nämlich sage ich: Da Gott die Wirklichkeit der Welt schlechthin ist, muss Er sie, wie auch den Sohn, zugleich geschaffen haben, sobald Er auch da war. Und noch mehr sage ich: Da Er lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit, wie es heißt, muss die Welt von Ewigkeit her da gewesen sein.«
»Die Schrift sagt uns, dass Gott am Anfang die Welt erschuf. Was aber
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