Den Tod im Blick- Numbers 1
wirst.
Spinne war aufgestanden und lief wieder rum, hin und her auf den flachen Steinen am Rand des Kanals. Er murmelte leise vor sich hin – ich verstand nicht, was –, wahrscheinlich versuchte er nur zu begreifen, was ich gesagt hatte. Er nahm eine Handvoll Kiesel und warf damit nach den Enten. Musste wohl eine getroffen haben, denn plötzlich flogen sie mit ihren kleinen braunen Flügeln, die wie verrückt schlugen, auf.
Er wirbelte herum. »Siehste bei jedem die Zahl?«
Ich schaute wieder zu Boden. Ich wusste, was jetzt kommen würde. »Ja, wenn ich die Augen seh.«
»Dann weißte also auch meine«, sagte er leise. Ich antwortete nicht. »Du weißt sie, stimmt’s?«, fragte er eindringlicher.
»Ja.«
»Scheiße, Mann. Keine Ahnung, ob ich sie wissen will oder nicht.« Er sank auf den Boden, kauerte sich zusammen und hielt sich den Kopf.
Frag mich nicht , dachte ich, frag mich nie danach, Spinne. »Ich werde sie dir nicht sagen«, entgegnete ich schnell. »Ich könnt es nicht. Es wär nicht richtig. Ich werd nie jemandem seine Zahl verraten.«
»Was soll das heißen?« Er sah mich jetzt an. Als sich unsere Blicke trafen, war die Scheißzahl wieder da. 15122010. Ich wollte sie mir aus dem Kopf reißen, sie auslöschen, als hätte ich sie nie gesehen.
»Es würde dich kaputt machen, dich in den Wahnsinn treiben. Es ist einfach nicht richtig.«
»Und was ist, wenn jemand nicht mehr lange zu leben hat? Wenn er sie wüsste, hätte er doch ’ne Chance, noch das zu tun, was er immer wollte.«
Ich musste schlucken. »Ja, schon, aber es wär doch wie in der Todeszelle sitzen, oder? Jeder Tag ein Schritt näher. Niemals. Niemand sollte so leben müssen.« Auch wenn wir es natürlich alle tun. Jeder weiß, dass er, wenn er morgens aufwacht, dem Tod einen Tag näher ist. Nur dass wir uns vormachen, es wär anders.
Spinne stand auf, kratzte sich am Kopf und kickte noch ein paar Steine ins Wasser. »Ich muss dadrüber nachdenken. Du hast mich total durcheinandergebracht.« In einer Straße ganz in der Nähe ging eine Sirene los. »Lass uns abhauen von hier.«
Ich reichte ihm seinen Pullover zurück und wir machten uns auf den Weg den Kanalpfad entlang. Der Schotter knirschte unter unsern Füßen, als wir an den graffitibeschmierten Mauern vorbeiliefen, die den Pfad säumen. Viele Gebäude waren verlassen, aber hier und da waren auch einige rausgeputzt und in schicke Büros, Restaurants oder Weinlokale verwandelt, schillernde Inseln in einem Meer aus Dreck. Die Sirenen wurden leiser, je weiter wir uns entfernten, und eine eigenartige Stille lag über dem Ort, als wär plötzlich alles zum Stillstand gekommen.
Wir nahmen eine Abkürzung zur Hauptstraße. Ein paar Leute waren vor dem Schaufenster eines Fernsehladens stehen geblieben. Wir stellten uns dazu. Auf einem Dutzend Mattscheiben war überall das Gleiche zu sehen: Das London Eye drehte sich nicht mehr. Ein Teil fehlte, so als hätte jemand ein großes Stück rausgebissen; eine Kabine war weg, andere verbogen oder zerstört, am Boden lag Müll. Nur dass es kein Müll war, es waren Menschenteile und Sachen von Menschen. Die Kamera hielt auf einem zerfetzten blauen Stoff, dem, was von einem Mantel übrig geblieben war, und irgendwas flatterte im Wind: der rüschenbesetzte Rand einer Basttasche, von der Druckwelle zerfetzt. Wörter liefen unten über die Bildschirme: TERRORANSCHLAG AM LONDON EYE … ZAHL DER TOTEN UND VERLETZTEN UNBEKANNT … POLIZEI WARNT ÖFFENTLICHKEIT VOR WEITEREN ANSCHLÄGEN …
Ich schaute eine Ewigkeit. Neben mir sagte Spinne: »Himmel, Scheiße, Mann.« Die Nachrichten liefen in einer Schleife, immer wieder dieselben Bilder. Ich spürte etwas in mir hochsteigen. Ich versuchte es runterzuschlucken, aber schließlich musste ich mir eine Ecke suchen, um es loszuwerden: Der säuerliche Inhalt meines Magens ergoss sich auf den Boden.
Spinne kam dazu, er hatte mich gesucht: »Alles in Ordnung, Mann?«
Ich keuchte, spuckte und versuchte den Mund sauber zu kriegen. »Ja«, sagte ich, zog ein Taschentuch aus der Hose und wischte mir den Mund ab. »Spinne?«
»Ja?«
»Ich hätte was tun können. Ich wusste, dass irgendwas passiert. Ich hätte sie warnen müssen, ich hätte sie dazu bringen können, das Eye zu schließen oder sonst was, keine Ahnung.«
»Ja, aber was, wenn sie es geschlossen hätten und alle wärn zur U-Bahn gerannt und dann wär’s da passiert?« Er hatte wahrscheinlich Recht. So oder so wär heute ihr Tag gewesen:
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